Das Verbot des Kongresses ist nicht die Spitze des Eisberges. Es ist Teil seiner breiten Grundfläche. Wir alle sind in den letzten Monaten Zeug:innen einer Politik geworden, in der palästinensische Positionen per se unter ständigem Generalverdacht stehen antisemitisch zu sein, damit delegitimiert werden und ihnen Raum und Ort der Artikulation verwehrt wurden. In der polizeilichen Verhinderung des Palästina-Kongress hat dies nun eine besonders besorgniserregende Dimension angenommen. Halten wir fest: Der Kongress und seine Beteiligten wurden öffentlich für schuldig befunden, bevor sie sich überhaupt eingefunden haben - Teil deutscher Leitkultur im Deckmantel des Polizeirechts, die durch pauschale Vorverurteilung Grundrechte wie das Versammlungsrecht schwerwiegend beschädigt. Auf deren Verletzung ist bereits durch andere und an anderer Stelle hingewiesen worden.
Die Organisator*innen wurden im Vorfeld scheinbar getäuscht, ihnen wurden kaum Auflagen von den Behörden erteilt und Betätigungsverbote nicht mitgeteilt. Es wurde ihnen für die Versammlung erst grünes Licht gegeben, sodass keine Notwendigkeit bestand den Rechtsweg einzuschlagen. Aufgrund von politischen Anweisungen wurde der Kongress sodann vor Ort völlig rechtswidrig und ohne eine Begründung, etwa dass eine tatsächliche Gefahr oder strafbare Aussagen vorlägen, verhindert. Das Scheinargument eines Verstoßes gegen ein Betätigungsverbot wurde genutzt, um den gesamten Kongress als Gefahr darzustellen und zu verbieten. Es zeichnet sich eine durch politisches Kalkül motivierte, autoritäre Entscheidung ab, den Kongress vor Ort mit polizeilicher Gewalt zu verunmöglichen, so dass dann kein Rechtsschutz zur Durchsetzung des Kongresses mehr möglich war.
Es ist dabei kein Zufall, dass eben nicht alle, sondern ganz bestimmte Teile der Gesellschaft Zielscheibe dieser Ordnungspolitik sind. Es traf und trifft just jene, die durch den gesellschaftlichen und staatlichen Rassismus seit jeher an die Ränder unserer Dörfer und Städte gedrängt werden. Es sind in diesen Monaten zuallererst sie, die unter staatliche Beobachtung, Kontrolle und Sanktionierung gestellt werden. Es sind diejenigen, die auf Herz und Nieren überprüft werden, ob sie sich auch wirklich im stetig verengenden Meinungskorridor bewegen oder nicht - die, die per se unter Rechtfertigungszwang stehen. Ihre Grundrechte zu beschränken, begründet sich über ihre an- und vorweggenommene Schuldigkeit. Würden Bio-Deutsche in ähnlicher Weise überprüft werden, könnten wir einen relevanten Teil des politischen Establishments getrost aussortieren. Der Umgang mit dem Palästinakongress spiegelt das zutiefst rassistische, ablehnende und vorurteilsbeladene Verhältnis zur sich verändernden Zusammensetzung der postmigrantischen Gesellschaft wieder. Gleichzeitig erteilt man jüdischen Stimmen in Deutschland nur dann ein Recht zu sprechen, wenn sie mit dem Meinungskorridor der Staatsräson übereinstimmen. Die (weißen) Deutschen sagen, was richtig ist und was sein darf, alle mit anderen Erfahrungen, Perspektiven, Betroffenheiten, mit anderem Schmerz und anderen Opfern und anderen Schlussfolgerungen haben die Fresse zu halten.
Die Eliminierung dieser Stimmen oder deren Kontrolle hat aber auch schwerwiegende Rückwirkungen auf den intellektuellen Rückzug Deutschlands aus der Welt und den in der Welt geführten Debatten. Die Abschottung von der Migrationsgesellschaft im Inneren spiegelt sich in der politischen, geistigen und kulturellen Selbstisolation nach außen wieder. Wieder sind es urdeutsch klingende Stimmen, die bestimmen, wer nach Deutschland kommen und wie und was hier gesprochen werden darf.Wie jede autoritäre Praxis wird auch diese sich nicht von allein begrenzen. Sie wird um sich greifen. Solidarität mit Betroffenen dieser Form autoritärer Verpolizeilichung hat für uns deswegen prinzipiellen Wert und Bedeutung. Wenn die Position Gleiche Rechte für Alle! von Bedeutung sein sollen, so darf man sich nicht gemein machen mit eben jener Politik, die Grund- und Menschenrechte politischer Gegner:innen per Federstrich negieren. Solidarität steht und fällt für uns nicht mit Übereinstimmung der Positionen, sie ist für uns prinzipiell und als Prinzip aufrechtzuerhalten. Es ist Solidarität, in der wir über unsere Unterschiede zusammenkommen und in der wir uns gegen Repression behaupten. Erst dadurch entsteht der Raum, um politische Auseinandersetzung zwischen uns wieder zum Gegenstand machen zu können.
Suchen wir die Risse im Beton des Meinungskorridors.
Interventionistischen Linke Frankfurt im April 2024