Aber auch wir haben uns an die Kälte gewöhnt. Seit vielen Jahren haben wir uns gewöhnt an die Meldungen über die Toten auf dem Mittelmeer, an die Abschottung an den EU-Außengrenzen und an die Verschärfung der menschenverachtenden Asylpolitik in Europa.
Wir haben uns gewöhnt an die Behinderung und Kriminalisierung von Seenotretter:innen und Kirchenasyl, daran, dass vor Abschiebungen in den Iran oder nach Afghanistan nicht zurückgeschreckt wird. Dass Türkei, Marokko und Tunesien zu sicheren Drittstaaten erklärt werden, dass die europäische Außengrenze vorverlagert wird in Todeszonen wie die Saharawüste. Daran, dass es uns kaum überrascht, wenn die CSU sich bei Italiens neofaschistischer Regierungschefin Meloni die Idee abschaut, zur "Abschreckung" Haftzentren inklusive Leichenhalle für tausende Geflüchtete in nicht-EU-Land Albanien einzurichten. Daran, dass selbst ein SPD-Bundeskanzler im SPIEGEL verkündet, "im großen Stil abschieben zu wollen" und dass die Grünen die faktische Abschaffung des Asylrechts durch das GEAS mittragen. Daran, dass die britische Regierung mit ihrem Ruanda-Modell längst plant, wovon Sellner träumt. Daran, dass es keine roten Linien mehr gibt.
Daran, dass die AfD von CDU, SPD, Grünen und FDP seit Jahren mit dem Versuch bekämpft wird, sie in Tat und Wort von rechts zu überholen. Daran, dass ihre vermeintliche Brandmauer längst eingestürzt ist und daran, dass auch ihre Antwort auf die eskalierenden Krisen des Kapitalismus die Festung Europa ist.
Wir haben uns gewöhnt an weltweite menschenrechtliche Doppelstandards und an schreiende globale Ungerechtigkeit. Wir haben uns gewöhnt an die Missachtung unserer eigenen Leben und selbst daran, dass wir die Missachtung regelmäßig weitergeben. So sehr haben wir uns daran gewöhnt, dass in den Debatten um Nahost selbst der Kampf gegen Antisemitismus mühelos instrumentalisiert wurde zu einer rassistischen und antimuslimischen Hetzjagd.
Gut, dass wir heute gemeinsam hier sind. Ein Zeichen dafür, sich noch nicht an alles gewöhnt zu haben. Und ein Zeichen unserer Hoffnung, dass wir, die hier zusammentreffen, sich noch nicht an all das gewöhnt haben.Mit der Dokumentation der Inhalte des Treffens führender Faschist*innen durch die CORRECTIV-Redaktion hat sich einmal mehr erwiesen, dass die faschistische AfD mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Nicht, dass es sich bei den „Enthüllungen“ tatsächlich um neue Erkenntnisse handeln würde. Und trotzdem bringt der CORRECTIV-Bericht das Fass zum Überlaufen, ist die offene Hetze doch schon seit Jahren unerträglich. Trotzdem macht es uns auch ein weiteres Mal wütend. Heute machen wir dieser Wut, unseren Ängsten und unseren Sorgen auch endlich auf der Straße Luft.
Vielleicht hat uns diese CORRECTIV-Recherche aufgeweckt und daran erinnert, dass viele der haarsträubenden Forderungen der Rechten längst durch jene bürgerlichen Parteien umgesetzt werden, die sich nun als große Antifaschist*innen aufspielen.Wir dürfen nicht wieder zurückfallen in unsere Gewöhnung, in die latente und manifeste Gewalt, die sie verkörpert. Und wir dürfen auch nicht zurückfallen auf die Verteidigung eines Rechtsstaats, der kein gleiches Recht für alle kennt, der systematisch von Nazis und rechten Strukturen durchsetzt ist. Ein Rechtsstaat, der in Länder wie Afghanistan abschiebt, Demos verbietet und Antifaschist*innen und Klimaaktivist*innen mit einer den Rechten gegenüber nie gezeigten Härte verfolgt. Wir dürfen nicht zurückfallen auf die Verteidigung eines Normalzustandes, in dem Sicherheit durch Polizei und Militär hergestellt werden soll und nicht durch Gerechtigkeit und Teilhabe. Wir wollen keine "wehrhafte Demokratie", die ihre Feinde nicht nur rechts, sondern auch links sucht. Eine Demokratie, die andere Länder ausplündert und sie in einem Zustand hinterlässt, in dem es sich vielleicht noch überleben, aber sicher nicht leben lässt - nur um dann all diejenigen, die daraufhin ihre Länder verlassen, durch Grenzzäune abzuhalten. Wir wollen keine globale, kapitalistisches Ordnung verteidigen, die sich selbst immer tiefer in die Katastrophe hineintreibt und deren einzige Antwort Krieg, Abschottung und Autoritarismus ist.
Verteidigen und erkämpfen sollten wir etwas anderes: eine vielfältige, sozial gerechte Gesellschaft des gegenseitigen Respekts und der Würde aller Einzelnen.
Verbunden wollen wir dafür sein mit all jenen, die nicht den Rechtsstaat, sondern die Gesellschaft der Vielen verteidigen wollen. Mit all jenen, die um die Falschheit des rassistischen Geschwafels der Trennung wissen, weil wir sagen: Alle, die hier sind und hierher kommen wollen, gehören dazu. Mit all jenen, die um die Falschheit des neoliberalen Geschwafels von Diversity wissen, weil es dabei nicht um eine offene Gesellschaft der Teilhabe, sondern um billige, migrantische Arbeitskräfte geht.
Mit all jenen, die täglich das europäische Grenzregime mit seinen zahllosen Zäunen und Mauern, Wüsten und Meeren überwinden. Mit all jenen, die vor den Kriegen, den Katastrophen und den Verhältnissen des andauernden Todes fliehen, die der Kapitalismus in die Welt trägt. Mit all jenen, die den scheiternden Versuchen der tödlichen Kontrolle ihren lebendigen Widerstand entgegensetzen. Mit all jenen, die für die Bedingungen und das Recht kämpfen, zu bleiben und zu gehen.
Kommen wir - so wie heute - zusammen. Stellen wir uns gegen die Faschist*innen der AfD, aber wenden wir uns auch gegen die Kälte und die Gewöhnung, gegen den Autoritarismus aus der Mitte und gegen den rassistischen Normalzustand.
Verteidigen wir weiter die Vielfalt und Offenheit, die wir schon erkämpft haben, und hören wir nicht auf zu kämpfen, bis das Eis der Vereinzelung, Abschottung und Gewalt gebrochen ist und sie unserer Vision einer Gesellschaft der Vielen, der solidarischen Beziehungen, des Kümmerns und der Teilhabe gewichen ist - einer Gesellschaft des Lebens.
Interventionistische Linke Frankfurt, Januar 2024
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