Dokumentiert aus So oder So, der Zeitung von Libertad!, Ausgabe 17 vom Mai/Juni 2007:
Im Frühjahr 2005 gab es erste Treffen, auf denen linksradikale Aktivist/innen sich darüber verständigten die Mobilisierung gegen den G8 Gipfel 2007 in Heiligendamm anzupacken. Seitdem ist auch Libertad! dabei. Es sind zwei Jahre vergangen und eine Menge ist passiert. Eine Einschätzung und ein Überblick über den aktuellen Stand der Mobilisierung, fünf Wochen vor dem Ereignis, wird in folgendem Interview dargestellt.
Vor wenigen Tagen fand die dritte und vor dem Gipfel letzte Aktionskonferenz in Rostock statt. Was sind ihre Ergebnisse und seid ihr mit ihnen zufrieden?
Das Abschlussdokument ist bei allem Pathos in einem Punkt eindeutig: von den in der Aktionskonferenz vertretenen Gruppen und Spektren gibt es eine eindeutige Ablehnung der G8, der Dialog findet auf unserer Seite des Grabens statt, aber nicht mit ihnen. Das festzuhalten, war noch mal wichtig. Rostock III war tatsächlich eine Arbeitskonferenz, fast 20 AGs tagten in Permanenz, um Lösungen für die vielen Schwierigkeiten zu finden. Nichts ist da einfach, nicht die Übereinstimmung in politischen Fragen und nicht die technischen und organisatorischen Voraussetzungen einer solch ambitionierten Aktionswoche. Insgesamt blieb allerdings die Beteiligung enttäuschend gering. Wir hatten schon gehofft, dass mehr Aktivist/innen kommen, die erst jetzt in die Mobilisierung eingestiegen sind. Die Konferenz zeigte so, dass in den verbleibenden Wochen noch gewaltige Anstrengungen unternommen werden müssen, um für die Teilnahme an der Aktionswoche zu mobilisieren.
Was denkt ihr zu der Kritik, dass die Mobilisierung sich an einem Event abarbeitet und die Politik des „Gipfelhoppings“ fördert? Wird nicht der Eindruck erweckt, dass acht Gestalten die Bösewichte wären?
Die Beschreibung und Befürchtung teilen wir. Natürlich ist es eine Kampagne, die wie jede versucht, die Kräfte auf ein bestimmtes Ziel, wenige Kernpunkte und einen konkreten Zeitraum zu konzentrieren. Wir denken, das ist die Form, in der eine Fundamentalopposition zusammen mit einer systemkritischen, aber nicht zwangsläufig systemfeindlichen Bewegung gesamtgesellschaftlich aktiv werden kann. Das in Gegensatz zum eigentlich notwendigen „revolutionären Alltag“ oder dem zu bringen, dass es doch „ums Ganze“ ginge, ist selbst eine ideologische Konstruktion. Die Zersplitterung und Segmentierung tendenziell revolutionärer Ansätze, oder zumindest deren Selbstverständnis, zeigt gerade im „Alltag“ wenig Spuren eines notwendigen Antagonismus. Die Gefahr der Verkürzung der notwendig grundsätzlichen Kritik an den Verhältnissen und ihren Ursachen lauert dort genauso an jeder Straßenecke wie in Heiligendamm am Zaun. Wie du siehst, ist das für uns kein akzeptabler Einwand.
Wie sind denn die bisherigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit?
Der G8-Gipfel in Heiligendamm eröffnet allen Linken die Möglichkeit gemeinsam und möglichst geschlossen zu handeln. Dafür braucht es natürlich ein Bündnis, in dem die unterschiedlichen Kräfte zusammenfinden. Wir zählen uns zur Interventionistischen Linken (IL), nehmen aber genauso an den Dissent-Treffen teil, auch weil wir bewusst mit mehr Gruppen aus der radikalen und revolutionären Linken direkt zusammenarbeiten wollen. Anvisiert hatten wir ein reales organisatorisches Bündnis, das in gemeinsamer Bestimmung und Verbindlichkeit zusammen arbeitet. Die Aktionskonferenzen konnten auf den Weg gebracht werden. Es waren hunderte von Leuten jeweils daran beteiligt. Es sind dort auch gemeinsame Beschlüsse gefasst worden wie eben die so genannte Choreographie des Widerstandes, in dem die Praxen von Demonstrationen, Gegengipfel und Aktionstagen beschlossen wurden. Das war ein sehr positives Ereignis.
Trotzdem zeigte sich, dass das angestrebte plurale Bündnis nur bedingt handlungsfähig ist und bis zum Gipfel selbst letztlich über eine Koordination nicht mehr hinauskommen wird. Dennoch: Gruppen wie Greenpeace, attac, einige NGOs, die Linkspartei aber auch die radikale Linke versuchen sich abzustimmen. Es kommt zwar nur zu wenigen organisatorischen Vereinbarungen, was wir bedauern, aber es gibt den Versuch die Protesttage im Juni einigermaßen gemeinsam zu bewältigen. Das ist ein klarer Fortschritt zu Köln 1999, der letzten Gipfelmobilisierung in Deutschland. Heute ist der Prozess offener und die verschiedenen Spektren versuchen zumindest miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten. Das betrifft die Frage der Organisation gemeinsamer Camps, dazu gehört auch, die verschiedenen Aktionsformen wie Blockaden, Demonstrationen, Kongress aufeinander abzustimmen.
Warum macht Libertad! bei der Interventionistischen Linken (IL) mit?
Die IL ist ja älter als die G8-Mobilisierung. Zunächst ist die IL vom Charakter her ein Netzwerk, ob es eine dauerhafte politische Strömung werden kann, wird die Zeit nach dem Gipfel zeigen. Wir sind ein Zusammenschluss von ganz unterschiedlichen Gruppierungen und Einzelpersonen: radikale Linke aus den 1970er Jahren, aus dem Umfeld der Zeitung analyse & kritik, auch aus Stadtguerilla-Gruppen, dazu Leute aus den 1980er Jahren, autonomen und antiimperialistischen Gruppen, dazu viele, die man zum Antifa- oder Autonomenspektrum der ausgehenden 1990er Jahre zählen würde. Nicht zu vergessen Leute, die sich als Linke in attac begreifen, oder auch aus der Befreiungstheologie kommen. Diese Mischung von Gruppen aus Jüngeren, Älteren und Einzelpersonen ist eigentlich, bei all unserer Unbestimmtheit, in der wir miteinander arbeiten, doch etwas sehr charmantes und zugleich einzigartig. Dass der G8-Gipfel ein zentrales Thema wurde, kam zwangsläufig aus der Anfangsfrage, die sich die IL stellte: Was ist radikale Politik heute, bzw. was heißt eigentlich Intervention? Wenn man sich den Namen überlegt, ist das ja eine unnötige Doppelung: eine Linke, die nicht gesellschaftlich eingreift, also interveniert, ist keine Linke. Unser provisorischer Name IL will daher verdeutlichen, dass die Linke aus der diskursiven Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse wieder die Ebene der Intervention, des Eingriffs entwickeln muss. Zeitlich ist für den Entstehungsprozess der IL der G8-Gipfel daher ein Geschenk des Empires, weil er einen Punkt markiert, zu dem sich alle Linken ins Verhältnis setzen können.
Für uns ist er eine Chance, unsere Skizzen von linker Intervention, aber auch kluger Bündnispolitik praktisch zu erproben und zu sehen, inwieweit gesellschaftliche Gegenmachtspositionen, wenn auch aus einer minoritären Position, so doch gemeinsam mit der globalisierungskritischen Bewegung, real werden können.
Das entwickelt sich natürlich nicht problemlos. Etwa in der so genannten „Gewaltdebatte“ im Zuge einiger attac-Äußerungen, aber auch im Streit um die „Parteifrage“, bei der einige NGOs aus dem ehemaligen rot-grünen Milieu, durchaus mit Unterstützung von attac, versuchten, die Linkspartei aus der Mobilisierung herauszuhalten. Andererseits ist die Rolle der radikalen Linken in den bundesweiten Koordinationstreffen nicht zu unterschätzen. Wir können uns durchaus behaupten, argumentativ wie auch mit unserer praktischen Erfahrung. Sowohl in der IL wie auch bei Dissent! gibt es viele Genoss/innen, die wissen, wie man mit minimalen finanziellen Mitteln organisatorische Großprojekte wie die Demo am 2.Juni oder auch die Camps organisieren kann. Ein Problem ist aber, dass das Selbstverständnis von Dissent! nur ein lockeres Sammelsurium von Gruppen und Einzelpersonen, aber keine organisatorische Kraft erlaubt. Folglich wird die IL ziemlich überschätzt. Viele erleben uns als relativ dominant auftretende radikale Formation im Bündnisprozess. Für uns ist das eher ein Problem. Denn wir sind zwar innerhalb der IL viele Gruppen, aber die linksradikale Mobilisierung geht doch von viel mehr Genoss/innen aus, und wir bedauern, dass aus dem Dissent!-Spektrum, in dem unzählige gute Initiativen organisiert werden, die politische Präsenz in der Gesamtkoordination schwach blieb.
Was versteht die IL unter Intervention?
Sicherlich ist die Diskussion in der IL noch nicht abgeschlossen, aber er umfasst für uns zuallererst mal die Bereitschaft und die Notwendigkeit, in gesellschaftliche Konflikte zu intervenieren, präsent zu sein, dazwischen zu gehen und innerhalb dieser Konflikte Positionen und Praktiken zu entwickeln, dıe tendenziell antagonistisch zu den Verhältnissen sind. Insofern also Intervention gegen die herrschenden staatlichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse. All dies ist längst kein Programm, es sagt nur etwas darüber aus, was für die Linke selbstverständlich sein sollte: Eingreifen und angreifen. Letzteres ist natürlich auch das Moment der Intervention oder der Reibung, die wir mit unseren unterschiedlichen Praxisformen ausdrücken. Wichtig ist auch die Intervention in die Linke selbst hinein, um die Diskussion und – vielleicht noch wichtiger – die Haltung, wie man eigentlich Politik macht und wie man mit anderen zusammenarbeitet, voranzubringen. Steht im Vordergrund, die eigene Linie zum Dogma zu erheben? Kann es Möglichkeiten der Kooperation mit anderen geben? Welche Dinge sind von unserer Seite nicht verhandelbar?
Gibt es Berührungsängste gegenüber der IL?
Von unserer Seite gibt es überhaupt keine Berührungsängste. Wir haben weder als IL, noch als Libertad! in der IL Probleme, mit allen möglichen Leuten innerhalb der Linken zu reden und zu schauen, was man zusammen machen kann. Was es vielleicht an Vorbehalten uns gegenüber gibt ist etwa, dass uns sicher einige attacis etwas misstrauisch beäugen, im Sinne, wie haltet ihr es denn wirklich mit der Gewalt, und was ist denn eure Vorstellung von dem Nebeneinander und dem gegenseitigen Respekt verschiedener Praxisformen, wie wir das vor zwei Jahren auf dem Sozialforum in Erfurt in unserer ersten Erklärung bezüglich der G8 gesagt haben. Von denjenigen, die sich radikaler als wir begreifen, gibt es dagegen die permanente Verdächtigung, dass wir im Rahmen des Bündnis- oder Koordinationsprozesses gegenüber attac, gegenüber der Linkspartei und anderen zu opportunistisch, in jedem Fall aber zu freundlich seien.
Was ist mit der „Gewaltdebatte“ und attac?
Es ist völlig klar, dass attac militante und direkt angreifende Aktionen weder gut heißt, noch betreibt. Insofern ist jeder Versuch, ihnen abzuringen, dass sie das doch eigentlich gut finden sollen, ein aussichtsloses Unterfangen und wird von uns auch nicht betrieben. attac hat allerdings auch Schwierigkeiten mit Aktionen des zivilen Ungehorsams, was wir im Rahmen einer G8-Mobilisierung nicht ändern können. Wenn es aber darum geht, dass attac wiederum versucht, anderen Kräften seine Vorstellung von Protesten aufzuoktroyieren und sie darauf zu verpflichten, sagen wir dazu nein. Das können wir nicht akzeptieren, das können wir von keiner Gruppierung akzeptieren. Wir würden es auch umgekehrt nicht akzeptieren, wenn radikale Kräfte versuchen würden, friedfertige zu irgendwas zu zwingen.
Böse Stimmen nennen Libertad! reformistisch ...
Die Etikettierung durch andere hat uns nie sonderlich gestört. Libertad! ist identifizierbar und unsere Praxis nachvollziehbar. Das ist auch ein Grund, warum wir uns in den Erwiderungen auf die attac-Äußerungen nicht einbefunden haben. Das ist einfach nicht unsere Sache. Die Frage revolutionärer Gewalt und ihre Rolle im Klassenkampf ist bei Libertad! quasie schon per „Satzung“ prinzipiell klar. Das wissen alle; das muss man nicht mit jedem Satz hinaustönen oder in Widerspruch zur Praxis anderer bringen. Es muss einen Reibungsprozess auch innerhalb linker, oppositioneller Kräften geben, in der unterschiedliche Traditionen und Herangehensweisen, wie auch Formen von Aktionen und Interventionen tatsächlich in einen Prozess miteinander treten. Das setzt von allen Seiten die Bereitschaft voraus, sich aufeinander einzulassen und gemeinsam neue Erfahrungen zu machen. Mit dieser Haltung versuchen wir uns in der Anti-G8-Mobilisierung zu bestimmen. Eine Haltung, die die IL in aller Ambivalenz auch einnimmt, um in diesem Prozess Position zu beziehen. Wenn man jetzt meint, diesen Prozess des Reformismus bezichtigen zu müssen, dann sind wir an diesem konkreten Punkt gerne reformistisch.
Was wird während des Gipfels euer Schwerpunkt sein?
Wir werden demonstrieren, umzingeln, diskutieren, blockieren, wir werden bei allen Aktivitäten, soweit wir es leisten können, irgendwie dabei sein. Mehr kann man jetzt noch nicht sagen. Natürlich sind wir durch das, was in diesem zweijährigen Vorlauf geschehen ist, sehr stark in das organisatorische Geschehen eingebunden. Trotzdem wird man uns an allen Ecken treffen und wir werden alles Mögliche versuchen, damit der G8-Gipfel für die Macht möglichst in die Hose geht.
Konnte Libertad! seine Kampagne gegen die Folter in der Mobilisierung etablieren?
Das ist ganz gut gelungen. So gibt es die gemeinsame Initiative mit anderen Gruppen für den Aktionstag am 5. Juni gegen den globalen Ausnahmezustand, gegen Militarismus und Folter. Es ist klar, dass wir mit möglichst vielen versuchen werden die Chefs der G8 und ihren Tross auf dem Flughafen Rostock-Laage, wo sie landen werden, gebührend zu begrüßen.
Trotzdem hat die Frage militärischer und repressiver Gewalt in den G8-Staaten und von ihnen ausgehend, in der gesamten Mobilisierung nicht den zentralen Stellenwert, wie wir es für notwendig halten. Die Militärpräsenz wird verstärkt und die Folter geht weiter - und im Kempinski wird verhandelt, wie es mit dem Regime des globalen Ausnahmezustands weitergeht.
Wie werden die Protest- und Aktionstage ablaufen?
Die Mobilisierung versucht ja an Seattle und Genua anzuknüpfen. Das spricht aus allen Publikationen, Flugblättern, Schriften usw. Aber in Deutschland fehlt, was es in Frankreich, Italien, aber auch Griechenland gibt: Ein linksreformistischer Akteur, der außerhalb der Parlamente aktivistisch versucht Politik zu machen. Zu Genua waren das in Italien die Jugend der Rifundazione Communista, die COBAS-Gewerkschaften, in Frankreich die starken trotzkistischen Gruppierungen und früher auch attac, in Griechenland der Synaspismos. Hier bei uns zeigt sich, dass attac trotz seiner Medienpräsenz zur Zeit weder die politische, noch die organisatorische Kraft hat ein solcher außerparlamentarischer Großakteur zu sein, der nicht nur den politischen Kontakt zur radikalen Linken hält, sondern dem es auch gelingt, das linksreformistische Spektrum von den NGOs bis in die Gewerkschaften hinein wirklich aktivistisch mitzunehmen. Aber auch die Linkspartei ist es aktuell nicht und die Frage ist auch, ob sie es jemals sein wird.
Diese Leerstelle merkt man an den einfachsten Dingen. Etwa, wie viele Busse organisiert werden, wo Anlaufpunkte sind und wo Leute mitmachen können, die nicht unbedingt auf das nächste autonome Anti-G8-Plenum wollen. Das zeigt sich politisch aber auch in einer elenden Debatte, die in der bundesweiten Koordination in Hannover von Anfang an stattfand und in der wider unseres Erwartens nicht die Gewalt-, sondern die Parteifrage im Mittelpunkt stand. Hier schlug das offenkundige Ressentiment eines eher westdeutschen, von NGOs und Grünen geprägten Milieus – wiewohl diese Leute mit den Grünen zum Teil ideologisch und politisch gar nichts mehr zu tun haben – voll durch, das sich vehement und mit zum Teil grotesken ideologischen Verrenkungen gegen eine offene Präsenz der Linkspartei in der Mobilisierung wandte, als hätte es die letzte Bundestagswahl und den damit einhergehenden Riss zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften nicht gegeben. Das führte dann zu so absurden Reaktionen, dass die Linksradikalen die Präsenz der Linkspartei verteidigten, obwohl wir weder subjektiv noch politisch eine besondere Nähe zu ihr haben.
Ist diese Einschätzung gemeinsame Grundlage?
Nein, wohl eher nicht. Die wenigsten haben dafür überhaupt ein Problembewusstsein. Es gibt bei attac einzelne, die das auch so sehen, das sind zum Teil auch die Genossen und Genossinnen, die bei der IL aktiv sind. Es gibt auch bei einzelnen NGOs Leute, denen das politisch klar ist, wiewohl sie durch ihre Verbandspolitik auch gebunden sind. Auch in der Linkspartei gibt es sicherlich einzelne, denen das klar ist, genauso bei den Linksradikalen, bei denen sehen einige zumindest dieses Problem des offenen Feldes und nicht zu wissen, wie man eigentlich damit umgehen kann.
Hat das Auswirkungen auf die Mobilisierung?
Es fehlt ja nicht nur der linksreformistische Akteur. Genauso schmerzlich fehlt die revolutionäre Linke als Kraft, die sich ihrer selbst sicher und der eigenen Stärke bewusst ist. In der Anti-G8-Mobilisierung ist diese Kraft organisatorisch-politisch nicht vorhanden und ihr Fehlen ist selbst einem Großteil der Aktivist/innen gar nicht bewusst. Aber dieser Akteur fehlt auch als kollektives politisches Bewusstsein innerhalb der linksradikalen Gruppen. Das ist ein Manko, und das können wir als Libertad! sehr gut im Vergleich z.B. zu unserer Gründungsmobilisierung am Weltwirtschaftsgipfel 1992 sehen, in der die Linksradikalen als politische Kraft im Bündnis eine reale Kraft dargestellt haben. Auch damals versuchten reformistische Kräfte, insbesondere die Grünen, zu spalten. Das führte dazu, dass sie gingen, aber ihr Geld da lassen mussten. Die Mobilisierung ist trotzdem gelaufen.
Die Demonstration gegen den G8-Gipfel findet am 2. Juni statt. Es ist die 40. Wiederkehr des Tages, an dem Benno Ohnesorg bei Protesten gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen wurde. Spielt dieses symbolische Datum der 1968er-Bewegung heute eine Rolle?
Ganz eindeutig: Nein! Es gibt keine Erinnerung an das Datum und erst recht keine Bezugnahme auf den damit symbolisch verknüpften Aufbruch einer internationalistischen, emanzipativen, neuen Linken. Das spielt in der G8-Mobilisierung keine Rolle. Nicht bei den sozialen Bewegungen und linken Parteien, aber auch nicht in der radikalen Linken und den linksradikalen Gruppen. Auch die Interventionistische Linke verhält sich da nicht anders. Die eigene Geschichte ist nicht präsent; die Kampagne gegen den G8-Gipfel tut insgesamt so, als wenn alles in Seattle und Genua begonnen hätte. Das ist nicht nur falsch, sondern beraubt einem auch der Möglichkeit aus den Erfahrungen zu lernen.
Dabei wäre das gerade jetzt wichtig. Linke Politik beginnt mit Solidarität. In Zeiten, in denen eine staatlicherseits inszenierte Kampagne selbst nach 24 Jahren Gefangene aus der RAF ohne vollständige Unterwerfung nicht rauslassen will, wäre eine Intervention der aktuell aktivsten Bewegung, nämlich der gegen den G8-Gipfel, eine notwendige und eigentlich selbstverständliche Sache gewesen. Das wäre auch ein Moment politischer Selbstbehauptung gegen den ideologischen Rollback. Was wir in den vergangenen Monaten erlebten, ist die konsequente Fortsetzung der Losung des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Geißlers „68 war schlimmer als die Nazis“. Da hilft es wenig, den angegriffenen „Antikapitalismus“ von seiner historischen Militanz zu distanzieren, sondern eher von seiner Verharmlosung zu befreien, denn natürlich war er mal als sehr fundamental und antagonistisch verstanden worden. Andererseits könnten selbst radikale Demokraten daran erinnern, wer zuerst geschossen hat - und dass der Mörder von Benno Ohnesorg nicht einen Tag im Knast gesessen hat.
Vor zwei Jahren gelang es Toni Blair, sich als Afrika-Retter aufzuspielen. Besteht die Gefahr, dass sich auch dieser Gipfel über ein populäres Thema legitimiert?
Ja, sicher. Das ist die Absicht und Teil der Inszenierung für die Öffentlichkeit. Ganz sicher wird es am Thema Klima versucht werden, vielleicht auch mit den Medikamenten gegen AIDS für Afrika. Aber das bleibt Augenwischerei. Der Grund, warum es vor zwei Jahren greifen konnte, lag zum einen sicher in dem Wunsch von NGOs und Verbänden mit am Tisch zu sitzen. Obwohl sie durch Gleneagles eigentlich eines Besseren belehrt worden sein müssten, meldeten sich auch diesmal deutsche NGOs als Ratgeber zu Wort. Klimamäßig werden sie sicherlich gebauchpinselt werden, ohne dass es reale Konsequenzen für die kapitalistische Ökonomie haben wird.
Aber der Hauptgrund war in Gleneagles der, dass die Anti-G8-Kampagne die Tatsache, dass der Gipfel im Land der Kriegskoalition gegen den Irak stattfand, gar nicht thematisierte und die Fragen von Krieg und Frieden nicht zur zentralen Konfrontation entwickelte. Solange aber die imperialistische Politik der G8-Staaten nicht angegriffen wird, bewegt man sich auf der Geschäftsgrundlage der im Namen von Freiheit und Demokratie verübten Verbrechen.
Ein Problem, das sich auch in diesem Jahr stellt. Der erwähnte Brief von über 40 NGOs klammert diese Frage genauso aus wie die der Menschenrechte und das internationale Foltersystem. Auch taucht darin die soziale Frage nicht auf. Im Rahmen der gesamten Aktivität gelang es zwar einen Aktionstag gegen Krieg und Folter zu bestimmen, aber diese zentrale Frage jeder oppositionellen Bewegung im Kapitalismus ist nicht selbstverständlich. Kein Wunder, wenn auf die ehemalige Regierungspartei geschielt wird, die Krieg und Auslandseinsätze der Bundeswehr zu dem ihr eigenen Profil entwickelte. So waren es die Grünen, die diese Frage thematisierten, weil für sie nicht einmal die harmlosen Sätze im Demoaufruf tragbar waren. Da muss man schon froh drüber sein.
Das wichtigste für uns an der aktuellen Mobilisierung ist, die verschiedenen Spektren, Ansätze und Generationen von Linken zusammenzuführen und wirklich ein Massen-Event zu veranstalten, das eine vielfältige Ausdrucksform in der Praxis findet, aber auch den Raum eröffnet, sich unterschiedlich zu artikulieren. Es geht darum in Heiligendamm das Verhältnis von Stärke, aber auch Momente von Sieg zu erfahren; wenn es Viele sind, wenn es massenhaft wird, wenn die Praxis vielfältig ist. Das herzustellen, war der politische Kern der Arbeit seit zwei Jahren. Gelingt uns das in den Gipfeltagen, dann kann alles nur besser werden.