Agora99 in Madrid - Wir organisieren ein Europa von unten!

Beitrag von Hanno und Kelly (iL)

Dokumentiert aus der Sozialistischen Zeitung SoZ 12/2012:

von Kelly Mulvaney, Hanno Bruchmann

Auf der Agora99 vom 2. bis 4.November in Madrid traf sich der stärker bewegungsorientierte Teil der No-Troika-Proteste. Es gab große Übereinstimmung mit den Mobilisierungsakzenten und den Fragestellungen, die auch bei Firenze 10+10 diskutiert wurden. Interessant wird sein, wie die Prozesse zusammengeführt werden können.
Agora99 ging aus den erfolgreichen internationalen Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt hervor. Dort hatten Angehörige der Bewegung 15M (benannt nach der Besetzung der Plätze nach dem 15.Mai 2011) für ein Folgetreffen nach Spanien eingeladen, um einen Verständigungsprozess der Bewegungen für ein Europa von unten voranzutreiben.
Der Ort des Zusammenkommens spielte für die Inhalte des Treffens eine bedeutende Rolle. Die Präsenz der Bewegung 15M beeinflusste die Agora in vielerlei Hinsicht. Einerseits konnten die Aktivisten aus anderen Ländern neue Arbeitsformen dieser Bewegung kennenlernen. Auf der anderen Seite war die Agora für die 15M-Bewegung eine Chance, die transnationale Dimension ihrer Kämpfe zu thematisieren.
Zu den Hauptzielen des Treffens gehörten die Entwicklung eines gemeinsamen Aktionskalenders für die Weiterführung der Proteste sowie die Planung eines intensiveren Organisierungsprozesses auf europäischer Ebene. Hunderte Aktivisten hatten sich auf den Weg nach Madrid gemacht, darunter die Netzwerke UniCommon und Global Project sowie viele soziale Zentren aus Italien. Aus Deutschland waren die Interventionistische Linke und das Bündnis Ums Ganze sowie einige Aktive der Occupy-Bewegung vor Ort. Die bereits länger kooperierenden Gruppen aus Spanien und Italien begrüßten es sehr, dass sich nun auch Gruppen aus Deutschland in einen gemeinsamen Prozess einbringen wollen.

Eine Föderation der Kämpfe

Freitag, 12.30 Uhr: Die Agora beginnt in dem von der Stadtteilversammlung Carabanchel besetzten sozialen Zentrum Eko. Zur Eröffnung diskutieren Vertreter aus Madrid, Rom und Berlin unter dem Titel «Gegen Schulden und darüber hinaus. Schritte für echte Demokratie in Europa». Die Veranstaltung liefert einen analytischen Rahmen für die weiteren Debatten in den drei Themenbereichen Demokratie, Rechte und Schulden.
Freitag, 19 Uhr: Im Workshop «Don’t owe – won’t pay!» wird zu Beginn noch einmal der Twitter-Hashtag #A99WontPay bekanntgegeben. Die Frau neben uns zückt ihr Smartphone und twittert drauf los: «Die Schulden sind ein Herrschaftsmechanismus.» Es ist Emma von der Plattform für ein Schuldenaudit der Bürge. Eine mit dem Laptop verbundene Kamera ist dabei auf uns gerichtet und überträgt das Video live ins Internet. Auf der anderen Seite sitzt Xavier, ebenfalls von der Plattform, der in einem Pad online verfolgbar mitschreibt, welche Vorschläge gemacht werden. Sie werden gesammelt und am Folgetag in einer Vorschlagsgruppe zusammengefasst.
In der Abschlusserklärung heißt es: «Die mangelnde Demokratie in Europa hat es erlaubt, unter der Drohung der Schulden primäre Bedürfnisse der Bevölkerung zu verletzen … Wir halten die Schulden für illegitim und werden sie nicht bezahlen … Die Schulden nicht zu bezahlen oder sie für illegitim zu erklären, ist nicht genug. Wir wissen, dass das kapitalistische System mit systematischen Schuldenmechanismen von Verarmung und Herrschaft arbeitet.»
Samstag, 12.30 Uhr: Im Diskussionsstrang zu Demokratie stellt sich heraus, dass ein konstituierender Prozess angestrebt wird. Insbesondere spanische Aktivisten sprechen von der Notwendigkeit, Europa von unten neu zu begründen. Für viele Spanier liegt es nahe, die spanische Verfassung, die nach Franco von oben eingeführt wurde, umzuschreiben oder Schlupflöcher für mehr demokratische Teilhabe zu nutzen. Auch in die Auseinandersetzungen über die europäische Verfassung wollen viele eingreifen. Für andere bedeutet der konstituierende Prozess jedoch eine Organisierung und Verdichtung materieller Kämpfe. Dem folgend spricht sich die Agora klar dafür aus, einen Prozess zu beginnen, in dem die Bevölkerung sich ermächtigt, ihr Zusammenleben selbst zu bestimmen. Was genau unter einem konstituierenden Prozess verstanden wird, muss sicherlich noch diskutiert werden. Der Ansatz bietet aber die Möglichkeit, von der lokalen bis zur transnationalen Ebene die konstituierende Macht der Bevölkerung zu mobilisieren und in einem Prozess zu organisieren.
Als Hintergrund für dieses Bedürfnis muss gesehen werden, dass die 15M-Bewegung sich seit 2011 zunächst auf den Plätzen versammelte und jetzt in Stadtteilversammlungen organisiert. Zuletzt haben die Parlamentsblockade und die großen Demonstrationen im September internationale Aufmerksamkeit bekommen. Es ist eine Massenbewegung, die es jedoch nicht geschafft hat, die spanische Regierungspolitik zu verändern. «Etwas muss passieren», ist ein Satz, den wir immer wieder hören. So wollen viele Aktivisten nicht nur Vertreter des herrschenden Systems angreifen, sondern mutig nach vorne gehen und selbst eine Alternative sein und aufbauen.

Wir organisieren ein Europa von unten

Sonntag, 12 Uhr: In der großen Abschlussversammlung werden die Ergebnisse aus den drei Arbeitsbereichen Schulden, Rechte und Demokratie vorgestellt. Es gibt große Einigkeit darüber, dass es eines transnationalen partizipativen Prozesses der direkten Demokratie bedarf. Die Möglichkeit der Teilhabe soll mittels neuer Kommunikationstechnologien wie Wikis, aber auch durch lokale Versammlungen ermöglicht werden. Zunächst soll auf diese Weise gemeinsam ein Dokument erstellt werden, in dem die «gemeinsamen Feinde» identifiziert werden. Das alte herrschende System muss auseinandergenommen werden, während zeitgleich der neue konstituierende Prozess begonnen wird. In diesem Zuge werden gemeinsam Alternativen entwickelt. Darüber hinaus sollen diese Schritte eines konstituierenden Prozesses mit gemeinsamen und koordinierten direkten Aktionen verbunden werden. Diese offensiven Aktionen werden die Gegner konfrontieren, größere Öffentlichkeit für den Prozess schaffen und ihn verbreitern.
Auf dem vereinbarten Aktionskalender ist der 22.März ein Vorschlag für eine zentrale europäische Mobilisierung nach Brüssel. An diesem Tag findet dort voraussichtlich der Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates statt. Im Mai 2013 soll es koordinierte dezentrale Aktionen geben. In der Bundesrepublik will sich Blockupy in diesen Zusammenhang stellen. 2014 soll es wiederum eine zentrale Mobilisierung gegen einen europäischen Akteur geben.
Der verfassende Prozess muss aber dezentral verlaufen. Die Verhandlungen über Alternativen muss den unterschiedlichen Situationen in den verschiedenen Ländern angemessen sein. Unterschiedliche Formen und Themen spielen eine Rolle.
Die Agora99 war der Beginn eines Organisierungsprozesses für soziale Bewegungen in Europa. Darin finden unterschiedliche Bewegungen eine Grundlage für eine kollektive Offensive. Für uns stellt sich also künftig die Frage, wie ein konstituierender Prozess in Europa gestaltet werden kann und wie wir uns hierzulande darin einbringen können. Wir freuen uns darauf, die Ergebnisse und Inspirationen der Agora zu debattieren und den Prozess gemeinsam weiterzugestalten.

Die Autoren sind aktiv in der Interventionistischen Linken. Eine längere Fassung dieses Artikels erschien in ak, Nr. 577, 16.11.2012. www.akweb.de