Hiermit geben wir bekannt, dass sich im August 2014 die Antifaschistische Linke Berlin [ALB] aufgelöst hat. Zu unserer Geschichte, den Gründen und der politischen Perspektive wollen wir in diesem kurzen Papier ein paar Worte verlieren.
Wo sind die Falten in meinem Bauch…
Im Augenblick unserer Auflösung blicken wir zurück auf die letzten 11 Jahre, in denen wir linksradikale und antifaschistische Politik in Berlin und in der Bundesrepublik mitgestaltet haben. Zusammen mit euch haben wir gegen den G8-Gipfel im Jahr 2007 demonstriert, sowohl auf der teilweise militanten Großdemonstration am 2. Juni 2007 in Rostock als auch wenige Tage später in den Feldern von Heiligendamm. Wir sahen uns jedes Jahr im November im Gedenken an Silvio Meier und alle anderen Opfer von neonazistischer Gewalt auf der Straße in Friedrichshain. Zusammen mit euch haben wir in endlosen Buskolonnen nach Dresden gesessen, die Nacht vorher vor Aufregung kaum geschlafen, Polizeiketten durchflossen und den größten Neonazi-Aufmarsch in Europa blockiert und unmöglich gemacht. Wir waren auf der Straße gegen die Einführung der Arbeitsmarkt-Reform Hartz IV, haben dort Neonazis von den Demos geworfen, haben x-mal gegen Gentrifizierung, gegen Zwangsumzüge und gegen die soziale Misere hier und in Europa protestiert. Mit Blockupy versuchten wir in Frankfurt mit vielen Anderen, ein wirkungsvolles Zeichen gegen die EZB zu setzen. Wir haben mit Zeitzeug*innen gesprochen und sie von ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, Italien, Spanien und Jugoslawien berichten lassen. Wir haben in Veranstaltungsreihen zum Neonazi-Netzwerk NSU versucht, das Unglaubliche, nämlich mordende Neonazi mit Unterstützung des deutschen Staates und seiner Behörden, in Worte zu fassen. In Berlin und darüber hinaus schmiedeten wir Bündnisse gegen Neonazi-Großaufmärsche – so zum 1. Mai 2010 oder zum 8. Mai 2005. Wir sahen uns staatlicher Repression ausgesetzt, weil wir versuchten, in der Presse die Zusammenhänge von kapitalistischer Unterdrückung und dem militanten Widerstand dagegen zu erklären. Wir haben Angriffe gegen unsere Gruppe und gegen Aktivist*innen der linksradikalen Szene zusammen mit Anderen entschlossen abgewehrt. Wir haben mit der LL-Demonstration jedes Jahr im Januar versucht, eine eigene linke Geschichtsschreibung zu etablieren und zu reflektieren. Wir scheuten uns nicht vor großen Bündnissen, beispielsweise gegen Neonazis und soziale Ausgrenzung, und haben in diesen Bündnissen versucht, radikale Standpunkte und Aktionsformen zu vertreten und wirksam werden zu lassen. Wir haben versucht, über die Verbindung von Kultur und Politik, Menschen außerhalb unserer Bewegung für linksradikale und antagonistische Politik zu begeistern und zu politisieren. Wir haben jedes Jahr wieder am 1. Mai in Kreuzberg für die Rechte der Arbeiter*innen, gegen Krieg, gegen Unterdrückung und den kapitalistischen Normalzustand demonstriert. Vieles andere mehr haben wir zusammen mit euch geträumt und organisiert: Deswegen sind an dieser Stelle auch nur ein paar Schlaglichter niedergeschrieben.
Das Maß scheint voll und das Glas ist scheinbar leer…
Unsere Gruppe war nie ein homogener Zusammenschluss, wie es vielleicht für Außenstehende aussah. Was einerseits Stärke ausmachte, brachte durchaus auch Probleme und Differenzen mit sich. Wir haben uns nicht im Streit zur Auflösung der [ALB] entschlossen, doch mittlerweile sind die Ideen, Strategien und Ziele zu unterschiedlich, die wir hinsichtlich einer linksradikalen Praxis, Organisierung und Perspektive haben. Organisierung und Organisation erfordern Verbindlichkeit und bedürfen Zeit und Aufwand, mitunter brauchen sie auch inhaltliche Korrekturen und zähe Debatten - um den richtigen und falschen Begriff vom Kapitalismus, um die Ausrichtung der Aktionen, um die Politik gegen die Festung Europa und gegen Neonazis, um die „Farbe der Regenjacke“, um die Notwendigkeit linksradikaler Aktionsformen und ihre Vermittelbarkeit. Festhalten können wir, dass wir es bereits seit einiger Zeit nicht mehr geschafft haben, die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen in Kraft und Enthusiasmus zu kanalisieren, sondern leider in Ratlosigkeit, Resignation und Austritten.
Symptomatisch wollen wir in diesem Zusammenhang einige Punkte kurz erwähnen, die uns als [ALB] in der letzten Zeit bewegt haben:
Als [ALB] haben wir uns politisch vor allem in den Bereichen Antifaschismus und soziale Kämpfe verortet.Unseres Erachtens befindet sich die klassische Antifa-Bewegung in einer Krise. Auch hier müssen neue Perspektiven entwickelt werden. Der Rassismus der Mitte, der europaweite Erfolg rechter und rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen und auch der Sozialchauvinismus in weiten Teilen der Bevölkerung bedürfen neuer Ansätze und Antworten durch die antifaschistische Bewegung. Das alte „Antifa heißt Angriff“ ist in diesem Zusammenhang eher als Stillstand und Phrasendrescherei zu werten. Auch hier greifen tradierte Konzepte nur noch bedingt. Ebenso spielt der Wandel in Teilen der extrem rechten Bewegung dabei eine Rolle: Die Fokussierung auf den Kameradschafts- und NPD-Nazi bedarf in Berlin und in anderen Großstädten teilweise einer Neubewertung. Außer Acht gelassen werden darf diese Formierung innerhalb der neonazistischen Szene natürlich nicht. Eine Antifa-Bewegung, die erfolgreich sein will, muss sich in einen Reflexionsprozess begeben und ihre Aktionen und Aktionsformen an eine veränderte extreme Rechte anpassen. Der Kongress „Antifa in der Krise“ im Frühjahr des Jahres 2014 zeigte diese Entwicklung. Leider konnten wir, trotz richtiger Fragestellung und Problembewusstsein, keine adäquate Antwort im Sinne einer politisch-organisatorischen Perspektive entwickeln.
Mehr noch als vor einigen Jahren gibt es derzeit die Möglichkeit, aktuelle selbstorganisierte Geflüchteten-Proteste zu unterstützen und zusammen mit den Refugees den Kampf gegen gesellschaftlichen Rassismus und das europäische Grenzregime zu führen. Hier liegt derzeit ein zentrales gesellschaftliches Konfliktfeld, wo es die Perspektive geben könnte, als radikale Linke wieder wirkungsmächtig zu werden. Es bietet sich für die radikale Linke die Möglichkeit, an entscheidenden Fragen der Zeit zu intervenieren und größere Zusammenhänge – beispielsweise zu imperialer Politik, zum Militarismus des Westens, zu Neokolonalismus, zu Sozialchauvinismus und kapitalistischer Ausbeutung – zu erklären. Das haben wir – und viele andere – verpasst. Auch hier bedarf es neuer Ansätze, Aktionsformen und Diskussionen. Der Enthusiasmus, das Aktionswissen und auch die Fähigkeit, unsere Positionen in breiten Bündnissen auf weitere gesellschaftliche Akteure zu übertragen und damit gesellschaftlich wirksam zu werden, die wir in linksradikalen und antifaschistischen Bündnissen in den letzten Jahren etabliert haben, hätten wir hier intensiv nutzen müssen.Gerade im Bereich der sozialen Kämpfe, dem zweiten für uns zentralen Arbeitsfeld, gibt es zurzeit gesellschaftliche Bruchstellen. Hier muss die radikale Linke versuchen zu intervenieren, eigene Positionen zu beziehen und Perspektiven aufzuzeigen. Dabei muss über die Szene hinaus mobilisiert und analysiert werden. Das passiert leider immer noch viel zu wenig. Auch haben wir es letztlich nicht geschafft, wirkungsvolle Sozialproteste zusammen mit den Betroffenen der Krise zu formulieren. Auch Blockupy erschien zuletzt Einigen von uns in diesem Zusammenhang mitunter mehr als eine richtige Fragestellung denn als eine wirkungsmächtige Antwort. So konnten in den letzten Jahren zwar mehrere tausend Menschen mobilisiert, ein europäisches Netzwerk aus Aktivist*innen errichtet und verschiedene Aktionen organisiert werden, die sich trotz Repression nicht von Staat und Polizei die Spielregeln haben diktieren lassen. Doch bezüglich der eigentlich wichtigen Frage, wie zukünftig nachhaltige und wirksame soziale Kämpfe auch lokal und im Alltag organisiert werden können, haben wir keine gemeinsamen Antworten finden können.
All diese Aspekte und Entwicklungen zeigen uns, dass ein „Weiter so“ als [ALB] keine gemeinsame Perspektive mehr darstellt. Mehr denn je bedarf es für die radikale Linke einer Neubewertung der Verfasstheit ihrer Strukturen, ihrer Wirkungsmacht und einer linksradikalen Perspektive, die ihren Namen noch verdient.
the show must go on…
Eigene Genoss*innen werden sich weiter in der Interventionistischen Linken (IL) organisieren. Anderen Genoss*innen ist derzeit dieser Ansatz nicht radikal und antagonistisch genug. Einige Genoss*innen aus unserer Struktur wollen einen neuen Zusammenhang gründen und an typische Aktionen und „Politikstil“ anknüpfen. Einige Genoss*innen werden sich bestehenden linksradikalen Strukturen anschließen. Die allermeisten von uns wollen auch weiterhin politisch aktiv sein!
Wir wünschen allen ehemaligen Mitgliedern der [ALB] viel Erfolg, Kraft und Mut - sei es in der „postautonomen“ Großorganisation, in der klassischen linksradikalen Gruppe oder in anderen autonomen, antifaschistischen oder linksradikalen Zusammenhängen.
Zum Abschluss: Wir möchten am 2.Oktober 2014 mit Freund*innen und Genoss*innen in Kreuzberg im Clash feiern und für einen würdigen Abgang sorgen. Das Geld geht an vier Antifaschist*innen, die 2013 versuchten, einen Naziaufmarsch in Berlin mittels einer Betonpyramide zu stoppen.
In diesem Sinne:
Ever tried. Ever failed.
No matter. Try again.
Fail again. Fail better.
(Samuel Beckett)
Antifaschistische Linke Berlin [ALB], September 2014
Ein erster Pressespiegel zur Auflösung der ALB:
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