Von Francesco Raparelli (globalproject)
Frankfurt ist unheimlich. Besser gesagt, seine Finanzcity ist es, ein Konglomerat von Wolkenkratzern, die sich zwischen Hauptbahnhof und Willy Brandt-Platz aufreihen. Vom Eurotower zum Sitz der UBS, von der Deutschen Bahn zur Deutschen Bank, Gebäude aus Glas, welche die Erde überragen und die Wirklichkeit bestimmen mit ihrer unkontrastierten Höhe. Die Spitze kann man nicht erreichen, die Gesellschaft erreicht hier ihren höchsten Grad an Abstraktion.
Auf der entgegen gesetzten Seite, unten, auf dem Boden, sind die Körper des Sex und die der Drogen. In Frankfurt überschneidet sich die Finanzcity mit Rotlicht- und Drogenvierteln. Die erstere steht darüber, zusammen mit Engeln, auf der Straße sind Nutten, finden Glücksspiele statt (die der Erde und nicht die des Himmels, die mit Derivaten gespielt werden) und „Schüsse“. Ja, in Frankfurt gibt es Schüsse, Spritzen, gibt es die Leute, die sich auf der Straße Schüsse setzen, auf einer Straße, die ihnen gewidmet ist. In dieser Straße kann man sterben, in Ruhe, dort kommt die Polizei nicht vorbei oder wenn sie vorbeikommt, schaut sie nicht hin oder wenn sie hinschaut, interessiert es sie einen Scheißdreck. In Frankfurt ist das durchschnittliche Einkommen pro Kopf 72.000 Euro pro Jahr (denkt mal kurz drüber nach, was die hohen Einkommen sein werden!?), die öffentlichen Dienste funktionieren perfekt, wie im Rest von Deutschland, im Übrigen, wer nicht über sie verfügt, tut gut daran, zu krepieren. Wenn man also läuft, wie in einem Zeitsprung in die Vergangenheit, in die Peripherie Roms in den frühen 80ern (oder in die italienische Provinz in den 90ern), dann begegnet man den Junkies, die das machen.
In den Rotlichtvierteln, Topos der Metropolen Nordeuropas, trifft man das Elend. In Amsterdam oder Kopenhagen gibt es fast ein wenig Eleganz, Hamburg ist quasi überall eine elegante Stadt und in den Sexvierteln kriegt es manche Schramme, aber fällt nicht. In Frankfurt, der kleinen Metropole (ca. 500.000 Einwohner) der europäischen Finanzen, dem Hauptquartier des deutschen Neoliberalismus, scheint der Sex keine einzige liebenswürdige Seite zu haben: Man schläft nicht miteinander, man „fickt“. Im Übrigen ist die Finanzwelt nicht im geringsten liebenswürdig, wer das Geld anderer riskiert, braucht drei Dinge, außer Bergen von Geld anderer, willfähriger Rating-Agenturen und siegreicher Algorithmen: Prozac, Kokain und Nutten zum ficken. Ja, überwiegend geht es um Männer, es ist nicht das erste Mal, dass gerade sie verantwortlich für die Katastrophe der Menschheit sind. Ein indiskreter Zwang zur Wiederholung.
Wir haben uns alle ein wenig verlaufen in Frankfurt, auch weil sich die Wolkenkratzer gleichen, sie scheinen ein eindeutiger Bezugspunkt zu sein und in Wahrheit gibt es nichts missverständlicheres als einen Wolkenkratzer wenn man versucht, die Orientierung in einer unbekannten Metropole zu behalten. Nur eine Sache macht es leicht, sie im Blick zu behalten in diesen drei Tagen des psychogeografischen Driftens: die Polizei. Man schaue auf die Polizei und es ist leicht, zu verstehen, wohin man nicht gehen durfte, quasi überall in der City. Fast 10.000 Polizisten umzingeln und belagern den Hauptort der europäischen Finanzen, seit kurzem geleitet von Mario Draghi, einem der zwei Marios, die in den erotischen Träumen von Eugenio Scalfari erscheinen. Polizisten in Bereitschaft, sich schnell zu bewegen, Polizisten, bereit, jede Menschenansammlung zu zerstreuen: Lauf mit mehr als fünf Personen und es besteht das unausweichliche Risiko, umzingelt, angehalten und verbannt zu werden.
Die ersten beiden Frankfurter Tage haben uns unter der Haut das Gefühl spüren lassen, wenn die Sicherheitsdispositive des neoliberalen Rechtsstaates siegen. Ein Polizeieinsatz, der mobil und flexibel ist: jede Form von Blockade oder manif sauvage zu unterbinden, heißt, die Bewegung auf ihrem eigenen Gebiet herauszufordern. Nicht nur wird die Mobilität entscheidendes Moment, um „die Blockade zu blockieren“, sondern die Vorausschau wird der absolut wichtigste Teil der polizeilichen Aktion. Nach zwei Tagen voll Wahn und Wut, zwischen Verhaftungen und Kesseln, haben wir angefangen, über die Polizeistrategie zu lachen. Wer sich an den Film Minority Report erinnert, kann unsere Fassungslosigkeit und Verärgerung verstehen. Jede Bewegung einer Gruppe wird zur möglichen Aktion, egal ob eine Gruppe nach 22.00 Uhr nachts nur zum Campingplatz will um zu schlafen, lieber umzingeln und kontrollieren, dann wird man sehen. Genau das haben wir verstanden, am Ende von zwei höllischen Tagen, mit über 400 Ingewahrsamnahmen insgesamt und 79, die uns betrafen. Ingewahrsamnahmen, die mit Sanktionen abgeschlossen wurden, die von Fall zu Fall variiert wurden: Für einige mit einer Art Stadionverbot für die City, für einige mit der Entfernung aus Frankfurt. Erdrückend vor allem aus emotionaler Sicht (das Gefühl, permanent in der Falle zu stecken, kann einem hässliche Streiche spielen), denn die deutsche Polizei ist die Polizei eines Rechtsstaates: Es handelt sich um Beamte des Staates, nicht um ein Sammelbecken zur Verwaltung der südländischen Arbeitslosigkeit; es handelt sich um gut ausgebildete und bezahlte Beamte, die geduldig mehrere Sprachen sprechen und an die politische Vernunft des Staates glauben, nicht um eine Bande aus der Peripherie, in aller Regel neofaschistisch, deren Beschäftigung darin besteht, es den „Zecken“ zu zeigen. Die demokratische Benutzbarkeit unserer Plätze ist oft beneidenswert, aber die brutale und neofaschistische Behandlung durch unsere Polizei ist eine Krankheit, die man anscheinend nicht herausbekommt: Die Polizeien Nordeuropas erinnern uns daran, jedes Mal.
Zweifellos hat die Dynamik der Repression, eine neue Dimension auch für die deutschen Genossen, die vorbereitete Aktionschoreographie von Blockupy Frankfurt in ernste Schwierigkeiten gestürzt. Zwei Tage lang haben wir Italiener einen Scheiß kapiert, und zum großen Teil wohl auch sie, es macht keinen Sinn, das zu verstecken. Aber der Willen und der Mut von tausenden Aktivisten, verstreut und verteilt in der Stadt, hat das gewünschte Ziel trotzdem ermöglicht: Die Blockade der City. Am Morgen des Freitags, am 18. Mai, stand die City still, verschlossen, leer. Und die Stadt war empört über ihre Polizei. Eine verödete Stadt, eine Stadt, geleert von den Funktionen des Geldes der anderen, von den Zockern. Die Metropole ohne den drängenden, stählernen Käfig der Austerität, für einen Tag, und das ist nicht wenig. Eine gewonnene Wette, die der Bewegung, dieses Mal, gezockt unter schwierigsten Bedingungen. Schwierige Bedingungen auch unter subjektiven Gesichtspunkten, Frankfurt ist nicht Berlin, ist nicht Hamburg, unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Ordnungskräften und Möglichkeiten der Bewegungen, Konflikt und soziale Verankerung zusammenzubringen. Wie ein wichtiges Spiel auswärts zu spielen, alles, für gewöhnlich, rudert in die andere Richtung. Trotzdem haben es die Genossen der Interventionistischen Linken, dieses Netzwerk war unser Bezugspunkt in der Vorbereitung der Mobilisierung, in diesen langen Frankfurter Tagen geschafft, das Spiel auf brillante Art zu spielen und ein einzigartiges Ereignis in der kurzen und schmerzhaften Geschichte der Eurozone zu organisieren.
Am Samstag dem 19. Mai ist ein epochales Ereignis geschehen. Vor dem Aufbrechen habe ich ein neues Seattle vorausgesagt, und zu Recht hat mir der Genosse Beppe Caccia, der in Seattle war, einen äußerst wichtigen qualitativen Unterschied aufgezeigt: Den sozialen Konsens, der die christdemokratische Sparpolitik in Deutschland trägt, trotz allem. Sehr wahr. Dennoch ist am 19. Mai eine neue Sache in die europäische Geschichte eingetreten, diese Geschichte, die von Maastricht zur Einführung des Euro, bis zur Schuldenkrise reicht: Eine bedeutende europäische Demonstration hat die Finanzcity belagert, die Wolkenkratzer von EZB und Deutscher Bank. Die deutschen Genossen, mit der Strenge, die sie auszeichnet, haben von 30.000 Personen gesprochen, in Italien hätten viele von 100.000 geredet, mit einem gewissen Realismus, gemischt mit meinem gewöhnlichen Optimismus, würde ich 50.000 „wahre“ Personen sagen. Ein Strom von Menschen, der den Main entlangging, um dann die EZB zu erreichen. Eine Demo, eröffnet von Die LINKE, der einzigen anwesenden Partei und von Ver.di, der Dienstleistungsgewerkschaft (stark im öffentlichen Sektor, aber auch im privaten), der in Deutschland die gleiche Funktion zukommt wie in Italien der FIOM, die Öffnung gegenüber den sozialen Bewegungen und der Bruch mit dem Korporatismus (typisch für die IG Metall, Vertretung der Metallarbeiter und die korporativste und am meisten auf Co-Management orientierte Gewerkschaft in Europa). 10.000 Jugendliche im antikapitalistischen Block: wir können mit Sicherheit sagen, dass der europäische Antikapitalismus alles andere als finster und nihilistisch ist, sondern jung und schön. Im antikapitalistischen Block auch der schwarze Block, der, als politisch wie sozial Ernst zu nehmende Struktur, im Angesicht einer offenen und breiten Demonstration, an den Abmachungen festgehalten hat und es vermieden hat, unpassend auf die kontinuierlichen polizeilichen Provokationen zu reagieren. Einige gebührende Stöße, um die Polizei auf Distanz zu halten, welche die Demo seit dem ersten Schritt eingekreist hatte, aber kein minotäres Abenteurertum. Die italienischen Nachahmer („Blackblockfetischisten“) waren nicht da, aber steht zu hoffen, dass sie trotzdem etwas gelernt haben. Ein Strom von Leuten, sehr breit auch aus Sicht der Generationen, in einer kleinen und ordentlichen Metropole, reich, superreich und verödet durch den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz.
Von Frankfurt wurde in Italien – mit der noblen Ausnahme von Santore und seinem Servizio Pubblico und XL – fast gar nicht geredet, vor allem wurde nicht über die außerordentliche Beteiligung aus Italien gesprochen. R.I.S.E. Up, Rising Italy for Social Europe, das italienische Netzwerk aus studentischen Zusammenhängen, Centri Sociali und Prekären der Medienwirtschaft, hat ein kleines Wunder vollbracht: Ein Block von ca. 400 Personen, innerhalb des antikapitalistischen Blocks, zusammen mit der Interventionistischen Linken, einem Block, der gleichzeitig militant und freudvoll war. Ein kleines Wunder zur Bestätigung der politischen Unregelmäßigkeit der italienischen Bewegungen, einziger wirklicher Gegenpart zur schlimmen politischen Szene und der lumpigsten Bourgeoisie Europas. Unterwegs mit R.I.S.E. Up die spanische Delegation aus Madrid und Barcelona und die griechische. In der Tat, die Demo war eine Fortführung des schönen Treffens am Morgen, dem Treffen in dem die europäische Perspektive der Bewegungen wieder aufgenommen wurde, auch über das Event von Frankfurt hinaus.
Von Frankfurt wurde in Italien auch wenig gesprochen, wenn man bedenkt, dass mit dem Gipfel der G8 in Chicago die unglückselige Geschichte der Austerität zu Ende sein könnte. Jenseits der von Merkel eingeführten sprachlichen Veränderungen („Konsolidierung der Steuern“ ist die siegreiche Formel) und der Schmeicheleien von Obama und CNN, die für Monti bestimmt sind (der zweite Mario, mit dem sich Scalfari aufgeilt), ist die Lage noch weit offen. Mittwochabend wird sich in Brüssel zeigen, ob Hollande wirklich in der Lage ist die Eurobonds nach Hause zu bringen, und ob damit, wie es Rampini sagt, der Niedergang Merkels begonnen hat. Vielleicht ist es richtiger, zu denken, dass der Niedergang der neoliberalen Politiker am Samstag in Frankfurt begonnen hat und das nur die Festigung der Verbindungen zwischen den europäischen antikapitalistischen Bewegungen in der Lage sein wird, die Arroganz der Wolkenkratzer, die den Main und ganz Europa überragen, in die Ecke zu stellen.
Ce n'est pas début, der Gedanke der Revolution startet erneut aus Frankfurt, wo Goethe gelebt hat, aber wo vor allem, '68 Hans-Jürgen Krahl und die am meisten gebildete Studentenbewegung in Europa ihre ersten politischen Schritte gemacht haben.