Das Gesundheitssystem vergesellschaften! - Krankheit und Alter sind keine Privatsache

Flugblatt der IL Hannover
Care
Her mit dem guten Leben

Gesundheit und Pflege betreffen uns alle. Sei es, weil wir selbst krank sind , sei es, weil unsere Familienangehörigen Pflege benötigen, sei es, weil wir im Gesundheitswesen arbeiten, sei es weil wir „behindert“ sind. Letztendlich werden wir alle früher oder später auf medizinische Versorgung und Pflege angewiesen sein! Zwar haben wir das Glück, in einem „reichen“ Land mit einer tausendfach besseren Gesundheitsversorgung als im armen globalen Süden zu leben. Aber, gemessen am Maßstab des Reichtums in diesem Land, ist unser Gesundheitswesen verarmt.

Die Beschreibung der bestehenden Missstände könnte ein ganzes Buch füllen. Fast JedeR hätte ein eigenes Kapitel beizutragen. Die Überschriften wären z.B.:

  • Blutige Entlassung
  • Armut erkennt man an den Zähnen
  • Arme Menschen sterben früher
  • Buchhaltung statt Zuwendung
  • Der gläserne Patient
  • Oma stirbt im Vierbettzimmer
  • Wenn ich streike, leiden die PatientInnen

Wenn sich nichts ändert, sind die Aussichten für die Zukunft düster.

Bestehende Ansätze solidarischen Handelns für Gesunde und Kranke

Die in den 1970er Jahren aufkommenden Alternativen Bewegungen brachten u. a. eine „Gesundheitsbewegung“ hervor, die sich auch positiv auf die grundlegende Deklaration der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Alma-Ata 1978 bezog. In dieser wurde Gesundheit als grundlegendes Menschenrecht erklärt und positiv, fast schon revolutionär, als „Zustand vollständigen körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens, und nicht bloß als Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit“ definiert. „Gesundheitsläden“ und “-initiativen“ sprossen hervor, ebenso wie zahlreiche Selbsthilfegruppen als Ausdruck der Forderung nach mehr Selbstbestimmung von Kranken. Die Zahl der Selbsthilfegruppen nimmt seitdem immer weiter zu - nicht immer im Bewusstsein ihres Ursprungs. Trotz zahlreicher Ansätze, tiefer in das System der sozialen und gesundheitlichen Versorgung einzusteigen, lief es nicht selten auf einen konstruierten Gegensatz von mechanistischer „Schulmedizin“ oder auch „Apparatemedizin“ versus „ganzheitlicher Naturmedizin“ mit nicht wenigen esoterischen Ausflüchten hinaus.

1986 wurde der „Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte“ gegründet. Dieser ist nicht vergleichbar mit den sonstigen ärztlichen “Lobby Organisationen“ und liefert im Gegensatz zu diesen immer wieder inhaltliche Beiträge zu einem sozialen Gesundheitswesen.

Auf der Ebene der Pflegenden beteiligen sich langsam auch Gewerkschaften an der öffentlichen Diskussion. So geht es nicht mehr „nur“ um Gehaltserhöhungen, sondern auch um die Arbeitsbedingungen. An der Berliner Charité, der größten Universitätsklinik Europas, werden die erfolgreichen Arbeitskämpfe von 2014 um bessere Arbeitsbedingungen auch ab Juni 2015 fortgesetzt. Damit soll eine bessere Versorgung der PatientInnen und eine geringere Belastung für die Pflegekräfte erreicht werden. Idealerweise beträgt das Verhältnis von Pflegenden und PatientInnen auf Intensivstationen maximal 1:2, auf Normalstationen 1:5. Aktuell liegt das Verhältnis aber je nach Station bei etwa 1:12.

Gesundheit ist keine Ware! Dieser vor allem von attac in die Öffentlichkeit getragene Slogan ist inzwischen in vieler Munde. In den letzten Monaten haben sich auch im Raum Hannover Menschen gegen die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung zusammengetan. In Lehrte und Springe protestierten hunderte gegen die „Medizinstrategie 2020“ der Klinikum Region Hannover GmbH (KRH), die vorsieht, die dezentralen Krankenhäuser in ländlichen Bereichen zu schließen und eine möglichst ökonomische, zentrale Krankenhausstruktur in der Region aufzubauen. Der Zusammenschluss wird als Vorwand genommen, um erhebliche Kürzungen durchzuführen. Ein Beispiel dafür ist die KRH Servicegesellschaft mbH, eine Tochterfirma der KRH. Als Dienstleistungsunternehmen erbringt sie Leistungen in den Bereichen Speise- und Textilversorgung, Hauswirtschaft sowie Bettenaufbereitung. Somit fallen die hausinternen Versorgungen weg. Eigenes tarifgebundenes Personal wird "gespart", Räumlichkeiten sollen anders genutzt werden: Mehr Platz für noch mehr Kranke, die von unterbezahlten, gering geschätzten Sorgearbeiterinnen gepflegt werden können.

Wie kann es gehen?

Wir haben uns die Frage gestellt, wieder Gesundheitsbereich aussehen könnte. In der Hand Aller und zu deren Nutzen, sprich: vergesellschaftet.
Gesundheit ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sicher zu stellen ist, dass Alle die notwendigen Leistungen erhalten, die sie brau-chen. Mit einem privat-wirtschaftlich organisierten Gesundheitswe-sen geht das nicht, denn unter diesen Umständen wäre damit kein Geld zu verdienen. Auch öffentliche Gesundheitsleistungen, die ebenfalls dem Wettbe-werb unterstehen, kön-nen die gesellschaftliche Daseinsvorsorge nicht erbringen.
Das Gesundheitssystem zu vergesellschaften heißt, Alle in die Solidarität einzubeziehen. Jeder Mensch hat den Anspruch auf die gleichen Leistungen, unabhängig von Einkommen, Geschlecht, Alter und Herkunft. Dennoch ist es in einem vergesellschafteten Gesundheitssystem durchaus möglich, die Kosten geringer zu halten, denn es müssen auch nirgendwo mehr Gewinne erwirtschaftet werden.
Zugleich müssen attraktive Arbeitsbedingungen für die Pflegenden geschaffen werden und Entscheidungsprozesse kollektiv im Zusammenspiel von PatientInnen, Pflegenden und potenziell Betroffenen getroffen werden.
Eine derartige Umgestaltung des Gesundheitswesens ist äußerst komplex, kann aber im Wesentlichen auf sechs Bereiche herunter gebrochen werden:

Prävention:
Derzeit wird Prävention überwiegend den Einzelnen angelastet. Gefördert werden vor allem individuelle Maßnahmen wie Fitnesstraining, die in die Freizeit verlagert werden, anstatt die krank machenden Arbeitsbedingungen zu verändern.
Krank machende Faktoren der jetzigen Gesellschaft und der Arbeitsbedingungen werden selten thematisiert, vor allem nicht angegangen.
Im Konkurrenzkampf setzt sich das Kapital über gesundheitliche Aspekte und Anforderungen rücksichtslos hinweg. Daher muss, um die Gesundheit erhalten zu können, auch auf die Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen eingewirkt werden.
So ist z.B. die auf Dauer viel zu große Lautstärke in Kindergärten als Problem bekannt. Hier schafft zwar die Einführung spezieller Schalldämmungen eine geringfügige Entlastung, allerdings bei weitem nicht genug. Dieses Problem ist nachhaltig nur über die Verringerung der Gruppengrößen zu lösen, wobei jedoch derzeit die dazu gehörenden finanziellen Mehrkosten gescheut werden.
Selbstverständlich ist Bildung ein wichtiger Faktor für Gesundheitsprävention und auch alle individuellen Aktivitäten haben eine große Bedeutung. Aber solange diese durch die grundsätzlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen wieder aufgehoben werden, sind sie im Endeffekt erfolglos. Daher müssen Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die ein gesundes Leben ermöglichen Auch sollte dabei genug Zeit sein, um sich nicht nur um das eigene Wohl kümmern zu können sondern auch um andere Menschen. Die wichtigste Voraussetzung, um dies ermöglichen zu können, ist die Verkürzung der Wochenarbeitszeit.

Ärztliche Praxis:
ÄrztInnen sind heute UnternehmerInnen, deren Gewinn entscheidend davon abhängt, welche Maßnahmen sie anordnen, wo sie praktizieren und wen sie behandeln. Die Versorgung der Bevölkerung darf aber nicht davon abhängen, wie einkommensstark sie ist, wie alt, wie ländlich, wie versichert oder wie deutsch.
Um eine flächendeckend gleiche Versorgung zu gewährleisten, könnte ein Rückgriff auf das Konzept der Polikliniken sinnvoll sein. Hierbei sind lokal, in der Nähe der PatientInnen, ÄrztInnen verschiedenster Fachrichtungen unter einem Dach versammelt und nutzen eine gemeinsame Infrastruktur. So entstehen für die PatientInnen kurze Wege zwischen den einzelnen Fachdisziplinen und auch unter den ÄrztInnen kann ein direkter Austausch erfolgen.

Pharmaindustrie:
Ein zentrales Problem des derzeitigen Systems sind die Pharmakonzerne. Sie erforschen und produzieren nur, was eine möglichst hohe Rendite verspricht. So wird viel Geld in die Forschung zur Veränderung von Medikamenten gegen Wohlstandskrankheiten gesteckt, für den Kampf gegen weit verbreitete Krankheiten im armen globalen Süden jedoch nur, wenn Regierungen und Hilfsorganisationen diese bezahlen. Gleichzeitig wird durch Patente die preiswerte Massenproduktion von Medikamenten verhindert.
Klar ist aber: Medizinischer Fortschritt sollte auf die Bedürfnisse der kranken Menschen, egal wo sie auf der Welt leben, ausgerichtet werden. Daher sind die großen Ressourcen der Pharmaindustrie an Geld, Forschungskapazitäten, Wissen und Produktionsstätten in öffentliches Eigentum zu überführen. Die Entscheidung, was wie erforscht und produziert wird, geht alle Menschen etwas an und darf nicht von interessengeleiteten Lobbyverbänden getroffen werden.

Finanzierung:
Derzeit ist die Finanzierung des Gesundheitswesens höchst ungerecht, da die KapitaleignerInnen nicht entsprechend ihrer Möglichkeiten zur Finanzierung herangezogen werden. Aktuell zieht sich das Kapital durch einen immer geringeren Anteil der Lohnkosten an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung weiter und weiter aus der Finanzierung zurück. In einem ersten Schritt sollte die „paritätische“ Finanzierung wieder ganz hergestellt werden Wir erinnern: Das Kapital zahlt eigentlich gar nichts, da der paritätische Arbeitgeberbeitrag nur nicht ausgezahlter Lohn ist. Für eine gerechte Verteilung der Lasten muss die Finanzierung über andere Mechanismen bereitgestellt werden, z. B. mit einer Abgabe auf die Wertschöpfung, den Gewinn oder den Umsatz der Unternehmen.

Krankenkassen:
Das System der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland stellt gewisse Beschränkungen gegen den reinen Markt dar, ist aber nicht umstandslos zu verteidigen. Kurzfristig braucht es eine einheitliche Krankenkasse mit gleichen Leistungen für alle. Nicht der Wettbewerb unter Krankenkassen, wie es die gegenwärtige Bundesregierung propagiert, schafft „soziale Gerechtigkeit“, sondern die Organisierung der bestmöglichen Versorgung durch Einbeziehung Aller ist die Voraussetzung zur Solidarität. Unerlässlich ist die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze. Die gegenwärtige Begrenzung der Solidarität, der sich die „Starken“ bislang entziehen dürfen, ist zu brechen und nicht zu zementieren. Dies trägt zu einer solidarischen Finanzierung bei. Der aktuelle Versicherungsbeitrag könnte ohne diese Entsolidarisierung auf deutlich unter 8% gesenkt werden. Privatkrankenkassen wären dann sogar unter „Marktbedingungen“ überholt.

Gesellschaftliche Entscheidungsstruktur:
Die Vergesellschaftung des Gesundheitsbereichs erfordert die Schaffung echter demokratischer Strukturen , um gesamtgesellschaftliche Diskussions- und Entscheidungsprozesse zu gewährleisten. Grundsätzlich sollte das Ziel darin bestehen, Strukturen zu schaffen, die allen die Möglichkeit zur Teilhabe geben: ÄrztInnen, Pflegepersonal, Gepflegten, (potentiellen) PatientInnen.
Die Aufgaben einer solchen Struktur - eines Gesundheitsrates oder wie auch immer man ihn nennen möge - oder einzelner ihrer Teile können darin bestehen, Forschung und Produktion von Medikamenten an gesellschaftlichen Notwen-digkeiten auszurichten, Gelder fair zu verwalten und zu verteilen und die ärztliche Praxis an den Bedürfnissen der Menschen vor Ort auszurichten. Auch die Förderung einer gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung, z. B. darüber, wer welche Arbeit leistet und unter welchen Bedingungen, könnte von einem solchen Rat geleistet werden.
Zugleich ist es notwendig, global zu denken: Die Anwerbung von Pflegekräften aus dem globale Süden oder gar die gezielte Ausbildung von Pflegenden einzig zur „Rekrutierung“ auf dem deutschen Arbeitsmarkt, wie sie derzeit vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert wird, sind das Gegenteil. Denn damit wird zum einen der Aufbau eines funktionierenden Gesundheitssystems in diesen Ländern behin-dert, zum anderen wird die soziale Not vieler Familien verstärkt.
Die Arbeit solcher Strukturen hängt jedoch auch maßgeblich von ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Politisches, soziales, gesellschaftliches Engagement kostet Zeit. Daher sollte die Last schon aus rein praktischen Gründen auf viele Schultern verteilt werden und möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft in diese Aufgaben eingebunden werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist auch hier wieder die Verkürzung der Wochenarbeitszeit.

Zum Schluss

Der Markt, deutlicher: der Kapitalismus, ist nicht in der Lage, für ein Gesundheitswesen zu sorgen, das Allen ohne sozialen Unterschied, Einkommen und Herkunft die gleichen und notwendigen Leistungen zukommen.
Denn alle Maßnahmen zum Abbau von Sozialleistungen, „Reformen“ des Gesundheitssystems mit Marktmechanismen und Eigenbeteiligungen werden stets flankiert mit dem (falschen) Versprechen, dass die marktkonformen künftigen Änderungen gegen zu große Härten selbst-verständlich „sozial gestaltet“ oder „abgefedert“ werden. Dies zeigt, dass die „Reformer“ aus Politik und Kapitaletagen um die grundsätzliche Problematik der kapitalistischen Ausrichtung eines Gesundheitssystems wissen. Sie stellen sie jedoch im Interesse des Marktes, der nichts anderes ist als das Interesse der Kapitaleigner, zurück.
So ist es auf der einen Seite richtig und wichtig, gegen weitere Angriffe auf die solidarischen Momente im Gesundheitssystem und für Verbesserungen für die Beschäftigten sowie die Pflegenden zu kämpfen. So ist es aber auf der anderen Seite in unseren Augen unabdingbar, das Gesundheitswesen vollständig aus dem privaten Profitsystem auszugliedern - sonst ist es nicht sozial. Das Gesundheitswesen ist also - in unseren Worten - zu vergesellschaften. Vergesellschaftung heißt nichts anderes als die Umsetzung der menschlichen Bedürfnisse.

Folgende Maßnahmen halten wir für richtig und gerecht und für unmittelbar umsetzbar:
  • Gleiche Gesundheitsversorgung für alle.
  • Die Finanzierung des Gesundheitssystems muss komplett umverteilt werden.
  • Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze und Gründung einer einzigen öffentlichen Krankenkasse.
  • Die großen Ressourcen der Pharmaindustrie in öffentliches Eigentum überführen.
  • Einführung von demokratischen Strukturen mit Mitspracherecht aller Beteiligten im Gesundheitswesen.
  • Konsequente und spürbare Verkürzung der Wochenarbeitszeit für alle als präventive Maßnahme zum Erhalt der Gesundheit.


Interventionistische Linke Hannover, Oktober 2015