Seit dem Sommer 2015 erlebt Mitteleuropa die größte Fluchtbewegung seit Jahrzehnten. Nicht zuletzt der mörderische Krieg in Syrien zwingt Hunderttausende dazu, ihr Zuhause zu verlassen. Die Mauern der Festung Europa sind dabei durch die notgedrungene Entschlossenheit der Flüchtenden in einem Ausmaß ins Wanken geraten, das bis dahin unvorstellbar schien. Auch in Deutschland und Österreich hat der lange Sommer der Migration die Gesellschaften verändert: Einerseits zeigen viele Menschen, die nie zuvor antirassistisch aktiv waren, praktische Solidarität und engagieren sich in Initiativen und Vereinen, um die Ankommenden mit dem Nötigsten zu unterstützen. Andererseits nutzen reaktionäre Kräfte die Situation, um ihrerseits in die Offensive zu kommen: Während die weitere Einschränkung des Asylrechts zeigt, dass die politischen Eliten längst mit der Reorganisation der Festung Europa begonnen haben, ist die neurechte Bewegung um Pegida und die AfD in der Lage, Tausende zu mobilisieren. Ihre Zuspitzung findet sie in zahllosen Anschlägen auf bewohnte und (noch) unbewohnte Flüchtlingsunterkünfte. Somit ist die Frage der Unterbringung schon heute der Punkt, an dem sich der Konflikt zwischen solidarischem Miteinander und rassistischem Ausschluss konkret verdichtet.
Von wegen „Flüchtlingschaos“
Wer nach langer Flucht in Orten wie Wien, Leipzig, Heidelberg oder Berlin angekommen ist, wird zurzeit behelfsmäßig in Zelten, Turnhallen, ehemaligen Baumärkten oder Flughafenhangars untergebracht. Hunderte von Menschen in einem Raum, ohne Privatsphäre, mit einer Handvoll Duschen und Toiletten für alle. Manchmal mitten in der Stadt, viel zu oft am Rand, von gesellschaftlicher Teilhabe schon räumlich weitgehend abgeschnitten. Das System der Erstaufnahme- und Registrierungslager basiert auf rassistischen Sondergesetzen. Ohne das ehrenamtliche Engagement so vieler Bürger wäre derzeit nicht einmal die Versorgung mit den elementarsten Gütern gewährleistet. Diese Krise der Administration ist auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen neoliberalen Kürzungspolitik, im Zuge derer die Versorgung mit sozialer Infrastruktur wie Wohnen, Mobilität, Bildung und Gesundheit immer weiter privatisiert und den Marktmechanismen unterworfen wurde. Die „Verschlankung“ der Verwaltungen und die Arbeitsverdichtung in den staatlichen Institutionen hat deren aktuelle Überforderung produziert. Der Rückzug des Staates aus der Wohnungsversorgung lässt ihn heute vielerorts ohne Reserven dastehen. Im Jahr 2013 fehlten in der Bundesrepublik allein 4,2 Millionen Sozialwohnungen. Einer sozialen Infrastruktur, die derart ausgedünnt ist, mangelt es bereits seit langem an Kapazitäten, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen.
Die Grenze verläuft zwischen oben und unten!
Keine Neuauflage des alten sozialen Wohnungsbaus in einer Substandard-Variante
Zugleich wird wie im „alten“ sozialen Wohnungsbau die Immobilienwirtschaft durch Quersubventionierung profitieren. Der Wohn- und Bauminister von NRW, Michael Groschek, drückt es so aus: „Der soziale Mietwohnungsbau in NRW wird eine ganz neue Dynamik entwickeln.“ Bei den Leichtbausiedlungen liege „die Rendite für Investoren […] sogar höher als im frei finanzierten Wohnungsbau“. Es ist somit das alte Modell der „sozialen Zwischennutzung“ aus den 1970er bis 1990er Jahren, das hier in neuem Gewand eine Wiederkehr erlebt: Private bauen mit staatlichem Zuschuss und gewähren dem Staat für eine bestimmte Zeit die Belegungsrechte. Nach dem Auslaufen der Sozialbindungen vermieten sie auf dem freien Markt und maximieren die Erträge ihrer Investitionen.
Für eine kommunale und selbstverwaltete Wohnungsversorgung!
Ein „neuer sozialer Wohnungsbau“ ist für uns ein kurz- und mittelfristiges Ziel. Er macht für wesentlich mehr Menschen ein Angebot, als dies Hausbesetzungen und Mietshäusersyndikate können, und kann dennoch schon heute die Perspektive einer Vergesellschaftung von Wohnraum eröffnen. In diesem Sinne darf sich die Forderung nach einem „neuen sozialen Wohnungsbau“ nicht auf die Frage der Miethöhe beschränken: Bereits der Prozess der Entscheidungsfindung selbst, aber auch die zukünftige Verwaltung des neu zu errichtenden Wohnungsbestandes sind radikal demokratisch zu gestalten. Sonst wird sich ein zweiter Fehler des alten sozialen Wohnungsbaus wiederholen: Wie die Mieter*innen weitgehend die passiven Objekte der Verwaltung großer Gesellschaften waren und sind, drohen heute die Geflüchteten und später alle anderen Sozialwohnungsberechtigten zu bloßen Empfänger*innen staatlicher Fürsorge degradiert zu werden. Stattdessen bedarf es gerade jetzt einer gleichberechtigten Teilhabe und wirklicher Selbstverwaltung. Nur so kann tatsächlich ein solidarisches, nachbarschaftliches und selbstbestimmtes Miteinander entstehen.
Forderungen nach einem „neuen sozialen Wohnungsbau“ und nach Rekommunalisierung sind als Übergangsforderungen wichtig. Über aktuelle Abwehrkämpfe werden wir jedoch nur hinauskommen, wenn wir eine wesentlich langfristigere soziale Perspektive einnehmen. Unser Ziel ist eine echte Vergesellschaftung von Wohnraum. Dieser muss Allen unabhängig vom Einkommen zur Verfügung stehen und von Allen gemeinsam verwaltet werden. Das lässt sich, wie die genannten Beispiele zeigen, stellenweise auch heute schon realisieren. Zugleich steht die Vergesellschaftung den Mechanismen des Marktes entgegen und kann dauerhaft nur verwirklicht werden, wenn der Ausstieg aus dem profitorientierten Wohnungsmarkt insgesamt gelingt – wenn wir also eine Gesellschaft aufbauen, in der Wohnraum keine Ware mehr ist!
Konkrete Utopien jetzt durchsetzen
Damit diese Perspektive Realität werden kann, müssen wir alle, Kiezinis, Mietervereine, Nachbar*innen, Antira- Aktivist*innen und Willkommens-Initiativen stärker als bisher versuchen, die jetzige, offene Situation zu nutzen, um Druck aufzubauen und Kräfteverhältnisse zu verschieben – damit aus dem langen Sommer der Migration kein Winter der Ausgrenzung, sondern der Ausgangspunkt für eine andere und solidarische Gesellschaft wird!
Recht auf Stadt-AG
Interventionistische Linke (IL)
Januar 2016