Der Beitrag wurde zuerst im Blog des NAO Prozess veröffentlicht und wird dort diskutiert. In der Folgezeit kam es zu mehreren direkten Antworten auf den Text, die weiter unten verlinkt sind.
Liebe Genoss_innen von der Sozialistischen Initiative Berlin,
liebe Mitdiskutierende zum Thema Neue Antikapitalistische Organisation,
unser langes Schweigen zu der von euch angestoßenen Debatte um eine neue antikapitalistische Organisation hat euch augenscheinlich irritiert. Zumal ihr euch in eurem Papier intensiv mit unseren politischen Grundsätzen auseinandergesetzt und uns auch als Gesprächspartner_innen adressiert habt. Vorneweg, uns freut es sehr, dass ihr eine Debatte um Organisierung anstoßt und dabei auch in vielen Punkten positiv auf unsere Grundsätze Bezug nehmt. Wir werden versuchen euch darzustellen, worin unsere Differenz zu eurem Ansatz und unser Schweigen zu der Debatte begründet liegen. Grundsätzlich begrüßen wir die Formierung von stärkeren, theoretisch und praktisch wirkmächtigen Strukturen. Euer „Zirkel zur Überwindung des Zirkelwesens“ hat eine spannende Debatte erzeugt, bei der einige von uns wichtige Impulse und Anregungen bekommen haben. Allerdings hat unseres Erachtens der Verlauf der Debatte auch die Probleme einer theoretisch versierten, jedoch nicht von einer gemeinsamen Praxis begleiteten „Kopfgeburt“ eines Organisationsprojekts gezeigt.
Avanti hat sich im Jahr 1989 gegründet und versucht seit 23 Jahren den kleinteiligen und mühsamen Weg des Aufbaus einer undogmatischen revolutionären Organisation. Wir haben uns in den letzten zwei Jahrzehnten auch außerhalb des Auf- und Ausbaus von Avanti mit viel Energie an den wesentlichen Initiativen zum Aufbau einer solchen Organisation beteiligt, beispielsweise an der FELS-Initiative oder dem gemeinsamen Projekt mit der Gruppe LEGO aus Bremen. Seit 2004 beteiligen wir uns im Rahmen der Interventionistischen Linken (IL) an einem neuen, aus unserer Sicht Erfolg versprechenden Organisationsprozess, der sich nicht mehr auf Norddeutschland beschränkt. Mit den Aktionen um Heiligendamm 2007 und der danach eintretenden Festigungsphase hat dieser Prozess für uns als Organisation Priorität bekommen, die Schaffung eines bundesweiten linksradikalen Akteurs – bei allen Ecken und Kanten, die solch ein Prozess mit sich bringt – mit wesentlich verbindlicheren Strukturen als einem Netzwerk liegt vor uns und wird dieses Jahr eine entscheidende Weichenstellung erfahren. Deshalb haben wir unsere internen Diskussionen auf diesen – unseren – Organisierungsansatz gelegt und werden den Prozess mit unserer ganzen Kraft vorantreiben. Ihr geht in eurem Papier „Neue Antikapitalistische Organisation – Na endlich!“ davon aus, dass dieser Ansatz faktisch gescheitert ist. Dem können wir nur deutlich widersprechen. Bei allen Problemen, welche die IL kennzeichnen, denken wir doch, dass die IL die Chance einer handlungsfähigen und im wahrsten Sinne „bewegenden“ Organisation hat. Das Potenzial dazu hat die IL bereits in Heiligendamm 2007, Schottern 2010/11 und Dresden 2009–2012 und einigen weiteren Projekten und Kampagnen angedeutet. Nun geht es uns darum, in der IL eine inhaltlich und organisatorisch festere Form zu entwickeln und die Kleingruppenstruktur zu überwinden. Wir haben gegenüber der IL bekannt, dass wir bereit sind, uns in eine „neue IL“ aufzulösen. Wir verstehen uns als Projekt mit dem Hauptziel des Aufbaus einer bundesweiten revolutionären Organisation.
Für den Fall, dass sich diese Hoffnungen an die IL nicht erfüllen, haben wir dargelegt, dass wir auch weiter an einem Ausbau unserer Avanti-Strukturen arbeiten. Dies haben wir 2008 in unserem Papier „Intervention braucht Organisation“ öffentlich und transparent dargestellt. Das bedeutet, wir lassen uns vollständig auf das Projekt der gemeinsamen Organisierung mit allen anderen an der IL Beteiligten ein und bauen gleichzeitig unsere eigenen Strukturen weiter auf und aus. Wir begreifen diese Strategie nicht als Konkurrenz.Avanti steht für einen kontinuierlichen revolutionären Diskussions- und Aufbauprozess einer bundesweiten Organisation, das kann auch in unserem Grundsatzpapier nachgelesen werden. Die inhaltlichen Eckpunkte unserer Organisation lassen sich dort nachlesen. Die Verankerung in sozialen Bewegungen, lokalen Bündnissen und Basisinitiativen ist für uns zentral. Der wesentliche und wahrscheinlich auch grundlegende Unterschied zwischen unserer Herangehensweise und der, die sich mit dem Diskussionsprozess zur Neuen Antikapitalistischen Organisation präsentiert, ist unsere Praxisbezogenheit. Wir können und wollen weder die potenziellen Diskussions- bzw. Organisationspartner auf theoretischer Ebene bestimmen, noch die Inhalte der Organisation zuerst en détail festlegen, und uns auf dieser Ebene zusammenschließen.
Wir kommen aus verschiedenen sozialen Bewegungen und haben gelernt, dass wir unsere Theorie immer eng an unsere Praxis geknüpft entwickeln müssen. Nur so können wir unsere Theorie und Praxis unter tatsächlicher Einbeziehung der Basisaktivist_innen und der praktischen Erfahrungen fortentwickeln. Nur so können wir im Übrigen authentischer Teil der kämpfenden sozialen Bewegungen bleiben. Unsere Schwerpunkte liegen momentan dabei auf den Bereichen Soziale Kämpfe (v.a. aktuell Mieten, Krise, Uni), sowie Antifa/Antira und Energiekämpfe und Feminismus. Sicherlich haben wir Defizite bei der Verankerung bei Klassenkämpfen in Betrieben und rund um Jobcenter und Co. Allerdings wir eine ökonomistisch verkürzte Analyse der Verhältnisse für falsch. Und für unseren Geschmack schimmert bei einigen eurer Äußerungen immer noch zu sehr das „Haupt-Nebenwiderspruchs-Theorem“ hervor.
Ein Unterschied liegt unseres Erachtens in der Orientierung des Aufbaus einer Partei des „neuen Typs“ mit Option auf Partizipation am parlamentarischen Geschehen. Wir begreifen uns demgegenüber nicht als „Mitgliederpartei“ sondern als Organisation von Aktivist_innen. Wir sehen die Notwendigkeit von gemeinsamen zentralen Strukturen, um politisch handlungs- und reaktionsfähig zu sein. Eine wesentliche Grundlage unserer Politik ist jedoch die Selbstermächtigung unserer Aktivist_innen, die Autonomie der lokalen Gruppen und die Orientierung auf eine außerparlamentarische und aktivistische Organisation. Generell versuchen wir die Widersprüche zwischen schnellen Entscheidungen und Basisbeteiligung, gemeinsamen Großaktionen und kontinuierlicher lokaler und thematischer Verankerung anzuerkennen und für uns produktiv zu machen. Eure Fokussierung auf Parteistrukturen mit potenzieller Teilnahme an parlamentarischen Wahlen im Konkurrenzverhältis zur LINKEN halten wir für strategisch falsch.
Angela Klein hat in ihrem Beitrag versucht, die Differenz zwischen unserem und eurem Organisationsprozess mit der historischen Konstellation zu erklären, die maßgeblich für die theoretische und praktische Orientierung ist. Bei euch (und ihr) die Konstellation der Zwischenkriegszeit (Einheitsfront etc.), bei uns hat sie die Chiffre 1989 verwendet – sprich der Niedergang der (europäischen) Linken und eine strategische Defensive der Linken. Unterschiede in der politischen Herkunft und Sozialisation und daraus resultierende politisch-kulturelle Unterschiede dürfen aber nicht auf Generationenunterschiede reduziert werden. Wenn diese Differenzen nur als „Alterskohorte“ gedacht werden, dann fällt dabei unter den Tisch, dass wir als Avanti versuchen, generationenübergreifende Organisationsstrukturen zu etablieren. Genauso stellt die IL einen Rahmen dar, in dem Menschen unterschiedlichsten Alters und mit unterschiedlichen politisch-kulturellen Hintergründen einen gemeinsamen Arbeitszusammenhang gefunden haben.
Dennoch ist sicherlich die Debattenkultur eine andere. Euer Diskussionsprozess unterscheidet sich bereits dadurch grundlegend von dem Prozess innerhalb der IL, dass er in einer Breite „ausgeschrieben“ wird, die zwar beeindruckend ist, bei uns aber gewisse Zweifel aufkommen lässt, ob die jeweiligen Beiträge wirklich innerhalb der beteiligten Gruppen und Initiativen erarbeitet und verankert sind, oder nur das Ergebnis einiger weniger schlauer Köpfe . Wir haben bei Avanti immer wieder, insbesondere aber im IL-Prozess gemerkt, wie gefährlich es sein kann, diese Diskussionen zwar auf einem höheren Niveau, aber im Wesentlichen durch Einzelpersonen geführt, laufen zu lassen, und wie schwierig es war, danach wieder die gesamte Gruppe einzubeziehen bzw. die postulierten Inhalte wirklich in der gesamten Gruppe zu verankern.
Bei aller Sympathie: Ihr macht einen Parforceritt durch die Welt der bundesdeutschen radikalen Linken, und überlegt euch, wer denn für eine revolutionäre Organisation geeignet wäre. Dabei kennen sich die meisten dieser Personen und Organisationen doch seit Jahren und haben sich mehr oder weniger bewusst entschieden, keine gemeinsame Theorie und Praxis zu teilen. Genauso versucht ihr, detailliert gemeinsame Inhalte festzulegen, bevor eine organisatorische, persönliche oder gar praktische Annäherung oder Praxis überhaupt beginnen kann.
Wir sind überzeugt, dass dvon uns favorisierte Modell einer Strömungsorganisation demgegenüber nicht nur vorzuziehen, sondern eine gemeinsame revolutionäre Organisation zum jetzigen Zeitpunkt ausschließlich auf diesem Weg zu realisieren ist. Wir folgen dabei keinem Einheitsfrontansatz, sondern versuchen unserer politischen Strömung, dem links(radikalen) interventionistischen Spektrum, einen organisatorischen Rahmen zu geben. Verschiedene Strömungen mit unterschiedlichen politischen Ansätzen sollten unseres Verständnisses nach zurecht separat organisiert und in einem kooperierenden Verhältnis stehen.
Die Einzelpersonen und Organisationen innerhalb der IL, und wir als Teil davon, können sich heute inhaltlich und praktisch zunächst nur gemeinsame Eckpunkte geben, die ihre Übereinstimmung markieren. Und die IL kann gleichzeitig verbindliche organisatorische Strukturen entwickeln, die die Zusammenarbeit sowie die demokratische Weiterentwicklung der Organisation, der internen Struktur und der gemeinsamen Praxis sicherstellt. Alles Weitere muss sich erst in dem hierdurch zu intensivierenden Prozess ergeben. Wir als Gruppe in der IL streben eine Dynamik an, die im Rahmen einer gemeinsamen Organisation auch aus der Auflösung der (Klein-) Gruppenidentitäten und dem gemeinsamen Aufbau einer neuen Organisationsidentität entsteht. Wir haben in den vergangenen Jahren, sei es bei den Aktivitäten zum G8-Gipfel in Heiligendamm, sei es in der Kampagne gegen die Huldigung des deutschen Opferkults in Dresden, gespürt, wie eine solche Dynamik entstehen kann und wie stark sie uns trägt. Wir können und wollen keine Organisation auf der Basis von Diskussionspapieren gründen. Das Primat der Praxis ist für uns keine Forderung, sondern Ergebnis jahrzehntelanger Erfahrungen.
Wir werden eure Bemühungen weiterhin mit Sympathie beobachten. In der aktuellen Phase werden wir jedoch das Projekt einer Organisierung der Interventionistischen Linken weiter aktiv vorantreiben und uns darauf fokussieren.
Mit solidarischen Grüßen
Strategiekomitee von Avanti, Projekt undogmatische Linke, März 2012
Antworten auf den Beitrag:- Sozialistische Initiative Schöneberg: Antwort an Avanti – Missverständnisse ausräumen, Differenzen weiter diskutieren, April 2012
- Frank Braun (SoKo Köln): Irgendwie revolutionär mit Selbstermächtigung, 21. April 2012
- Karl – Ludwig Ostermann: Gründlich falsch verstanden! - Zu Franks Brauns Diskussionsbeitrag zum Avanti Brief, 24. April 2012