Am 12. September 2012, dem 32. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei, traten 63 kurdische Häftlinge der PKK und PAJK in unbefristeten Hungerstreik, in den folgenden Wochen schlossen sich mehr als 700 Gefangene an. Seit dem 5.11. sind 10.000 Gefangene im Streik. Heute ist der 58. Tag des Hungerstreiks, mittlerweile lebensbedrohlich für die Ersten. Die Forderungen der kämpfenden Gefangenen sind konkret: Recht auf kurdisch-sprachliche Bildung in Schulen und Universitäten, das Recht auf die eigene Sprache in der Öffentlichkeit und bei Gerichtsprozessen. Dazu: die Aufhebung der jahrelangen Isolationshaft von Abdullah Öcalan, die Gewährleistung seiner bürgerlichen Rechte und seiner Gesundheit, und die Aufnahme von politischen Verhandlungen um eine kurdische Zukunft auch mit ihm.
Demokratisierungsprozesse unterstützen – den Krieg beenden
In einem über 30 Jahre andauernden Krieg gegen die kurdische Bevölkerung sind über 45.000 Menschen ums Leben gekommen, 17.000 davon wurden vom Geheimdienst JITEM ermordet, 4000 Dörfer wurden zerstört und ihre Bewohner_innen vertrieben, Hunderttausende flüchteten in die Elendsquartiere der türkischen Metropolen. Alle Versuche, diesen Krieg zu beenden, scheiterten bislang. Kurdische Parteien werden regelmäßig verboten, Waffenstillstände zwischen der PKK und dem Staat wurden dutzendmal durch das Militär und die politischen Machtcliquen in Ankara aufgekündigt oder gezielt unterlaufen und sabotiert.
Die kurdische Freiheitsbewegung hat unter den Bedingungen permanenter Verfolgung eine emanzipatorische Stoßrichtung bewahrt. Lag der Fokus früher auf kurdischer Eigenstaatlichkeit, ist heute an die Stelle der Forderung nach nationaler Souveränität der Aufbau einer radikalen Demokratie getreten, zu der auch Geschlechterbefreiung, Antikapitalismus und Ökologie gehören. Dazu experimentiert die kurdische Bewegung mit einer Rätestruktur, die breite Teile der Bevölkerung mit einbezieht, um wirkliche Autonomie alltäglich werden zu lassen. Zu Beginn dieses Prozesses der „Demokratische Autonomie“ vor etwa 3 Jahren wurde die kurdische Bewegung und Zivilbevölkerung mit einer neuen Welle der Repression konfrontiert, die sich dezidiert gegen die basisdemokratischen Strukturen richtet und bis heute andauert. Mittels der sogenannten KCK-Verfahren wurden seitdem über 8.000 Menschen verhaftet und unter Anklage gestellt. KCK ist der Dachverband aller Räte und wird vom türkischen Zentralstaat mit der PKK gleichgesetzt – und somit als Terrororganisation eingestuft.
Politisch hat sich in der Türkei eine Linie der Assimilation durch Unterwerfung durchgesetzt, egal ob in der kemalistischen Sozialdemokratie, dem religiös gefärbten Neoliberalismus oder bei faschistischen Parteien: Bürger_in ist nur, wer sich zur türkischen Fahne bekennt – das Recht auf Differenz bleibt untersagt und jede Dissidenz vom national-türkischen Projekt wird abgestraft
und verfolgt.
Die deutsche Seite des Kriegs
Nicht nur durch EU-Beitrittsverhandlungen und die NATO-Mitgliedschaft der Türkei ist Deutschland in diesen Krieg verwickelt. Unzählige Waffenexporte, die Beteiligung deutscher Unternehmen an Energiegroßprojekten in kurdischen Gebieten und die deutsche Unterstützung des türkischen Militärs, beispielsweise durch die Ausbildung von “Anti-Terror-Einheiten”, lassen die deutsche Regierung und deutsche Konzerne von diesem Krieg profitieren und machen sie mitschuldig. Vergangene Woche machte Merkel gegenüber Erdogan in Berlin ihre Unterstützung der türkischen Regierung im Krieg gegen die kurdische Bewegung noch einmal mehr als deutlich: “Die Bundesrepublik steht im Kampf gegen den Terrorismus unverbrüchlich an der Seite der Türkei”.
Auch innenpolitisch birgt der Konflikt Sprengkraft, denn die kurdische Bevölkerung in Deutschland stellt einen nicht unerheblichen Anteil der Migrant_innen dar. Kurdische Aktivist_innen werden auch in Deutschland verfolgt und gemäß § 129b “Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung” inhaftiert oder an die Türkei ausgeliefert.
Das doppelte Schweigen
Die deutschen Medien berichten kaum über Massenverhaftungen, “Anti-Terror”-Prozesse und die anhaltende Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Sie halten sich bis auf wenige Ausnahmen an die politische Linie des Kanzler_innenamts.
Aber auch die Linke beschäftigt sich hierzulande nur selten mit der kurdischen Bewegung und ihrem Aufbau von selbstverwalteten Basisstrukturen in Stadtvierteln und Gemeinden. Kurdische Aktivist_innen waren in den letzten Jahren immer wieder in Venezuela, in Chiapas oder in Porto Alegre, um aus den Erfahrungen anderer Kämpfe zu lernen. Nach Kurdistan fahren Linke aus Deutschland jedoch selten, an den Kämpfen dort sind sie wenig interessiert.
Das Schweigen der Medien bedroht das Leben der Hungerstreikenden. Die Stille der Linken läßt sie alleine. Aber der Hungerstreik ist das letzte Mittel der politischen Gefangenen, für ihre Rechte zu kämpfen. Das verlangt unseren Respekt und unseren Beistand.
Wir solidarisieren uns mit den Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen und mit ihren Forderungen!
Weil wir das kurdische Projekt der Demokratischen Autonomie unterstützen, weil für uns das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit ist, weil wir um die deutsche Rolle im anhaltenden Krieg gegen Kurd_innen wissen und weil unsere Antwort darauf nur die Solidarität sein kann, unterstützen wir die Forderungen der Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen. Wir fordern alle Linken und Demokrat_innen auf, es uns gleichzutun.
Kurdistan wird frei sein!
Kampagne Tatort Kurdistan und Interventionistische Linke, 08.11.12