Die Kämpfenden in dieser Welt machen ihre eigene Geschichte, sie machen sie nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Diese Umstände sind uns mal mehr, mal weniger gesonnen. Meist sind sie feindlich, trachten nach uns. Es geschieht dann, wenn die Kämpfenden zu unbequem werden für die, die die Umstände zu verantworten haben; wenn der Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit droht, eine populare Macht von unten zu ermöglichen.
In Kolumbien regiert seit wenigen Monaten und nach 60 Jahren ultrarechter Herrschaft und Bürgerkrieg eine linke Regierung, zu der auch die massiven Proteste im vergangenen Jahr ihren Beitrag leisteten. Während diesem sozialen Aufruhr ließ die Vorgängerregierung mindestens 80 Menschen ermorden. Allein in Siloé töteten Polizei und Militär 16 Menschen. Weitere 159 wurden mit Schusswaffen verletzt. Zwei Bewohner:innen gelten nach wie vor als verschwunden. Es kam zu zahllosen Fällen tagelanger Folter und Misshandlung. Bis zum heutigen Tag trugen Staat und Behörden zu keiner Aufklärung bei. Ermittlungen wurden nicht eingeleitet. Keine Suche nach Wahrheit. Keine Gerechtigkeit. Keine Würde. Damit dies geschieht, muss gemeinsam von unten gestritten werden. Nichts wird geschenkt. Alles muss erkämpft werden! Mit diesem Ziel organisiert sich der Kampf um Würde und gegen die Straflosigkeit im Tribunal Popular en Siloé.
Siloé, das ist ein Viertel in der kolumbianischen Großstadt Cali, dessen Name stellvertretend steht für den historischen Ausschluss und der einhergehenden Erniedrigung großer Bevölkerungsteile. Siloé steht für eine Realität des Heute ohne Morgen, für die Durchdringung von Gewalt, die das kollektive Leben zersetzt und an seiner statt Angst und Argwohn etabliert. Siloé ist aber auch der Name für die Unversöhnlichkeit mit eben diesen Umständen, für die Wut im Herzen, für das Wollen und Begehren nach einem Morgen, das schon heute möglich ist.
Diese Wut artikulierte sich in jenen monatelangen, landesweiten Aufständen. Der Staat und seine Schergen mussten das Rennen lernen, und nicht wenige Menschen im Viertel, allen voran junge, waren von einem Gefühl beseelt, sich gemeinsam den Raum ihres Lebens zurückzuholen. Ausgelöst von einer Steuerreform, die die sozial benachteiligten Schichten weiter in die Armut gestoßen hätte, vermittelte der Aufstand nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs, der Armut und der Misere eine gemeinsame Perspektive.
Am 3. Mai 2022, ein Jahr nach der sogenannten Operación Siloé, bei der zahlreiche Protestierende ermordet wurden, begann das Tribunal öffentlichkeitswirksam seine Arbeit. Es waren damalige Verletzte und Gefolterte anwesend. Freund:innen, Eltern, Geschwister, Partner:innen der Ermordeten und Verschwundenen waren präsent. Man hörte sich zu und an. Informationen wurden ausgetauscht, das Wissen kollektiviert, die Verbrechen recherchiert und mit ihrer akribischen Dokumentation begonnen. Am 10. September 2022 wurde in einer zweiten Anhörung die Anklageschrift verlesen. Angeklagt sind unter anderem der amtierende Bürgermeister von Cali, Jorge Iván Ospina Gómez, und mehrere Polizeidirektoren. Sie werden für die bisher straflos gebliebene Gewaltwelle verantwortlich gemacht. Eine Gruppe internationaler Geschworener begleitet den Prozess, sichtet und beurteilt die Beweislast, darunter Boaventura de Sousa Santos, Daniel Feierstein, Joanne Rappaport, Raul Zelik und Dario Azzellini. Für den kommenden Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember soll mit dem Festival Sin Miedo, dem Festival Ohne Angst, der Gewalt etwas entgegengesetzt werden. Bands aus dem Viertel sollen spielen. Mit unserer Kultur gegen ihre Gewalt.
All die Ansätze, die Angst zu verlernen und sich das Leben wieder anzueignen, hinterfragen die Macht des Staates. Sie stellen ihn bloß. Die für die Umstände Verantwortlichen wehren sich, versuchen den Wandel zu verhindern. Und sie handeln. Am Sonntag, den 30. Oktober 2022, inmitten des »XII. Carnaval de Diablitos«, ein populärer festlicher Umzug in Siloé, wurde einem Mitglied des Tribunal Popular von einem Kind, nicht älter als zehn Jahre, ein geschlossener Umschlag übergeben. Der darin enthaltene Brief trägt das Emblem der Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC), eine paramilitärische Organisation in Kolumbien. Unterschrieben ist er vom Generalstab der AGC. Unter Beleidigungen und Verschmähungen werden die Linke und diejenigen, die unter Rückgriff auf das Mittel der Menschenrechte versuchen, das Unrecht zu benennen, attackiert und ihre Arbeit delegitimiert. Vier Mitglieder des Tribunal Popular en Siloé werden unter Nennung ihrer Namen zum »militärischen Ziel« deklariert. Es werde »Blei geben«. »Alle, die sich mit dem Tribunal gemein machen, werden für ihre Taten bezahlen. Das ist kein Spiel.« Einen Monat zuvor erfolgte im Viertel ein Massaker an fünf Bewohner:innen. Pamphlete derselben paramilitärischen Gruppe zirkulierten zuvor unter der Bevölkerung. Sie kündigte eine »sozialen Säuberung« an und verhängte nächtliche Ausgangssperren.
Unsere Genoss:innen in Siloé sind bestürzt. Vorsichtsmaßnahmen werden getroffen. Wir, im weit entfernten Deutschland, sind ebenfalls besorgt, bangen um sie. Vor wenigen Jahren noch waren wir als politische Delegation vor Ort. Wir lernten Siloé und einige seiner vielfältigen Facetten kennen. Wir sahen die Dringlichkeit des Kampfes, die unmittelbar vorgefundenen Umstände, die sich von den unsrigen so unterscheiden – und es im Ziel doch nicht tun. Wir kämpfen gemeinsam!
Heute besteht unser Kampf auch in der Sorge um das Leben und Wohlbefinden unserer Genoss:innen in Kolumbien. Ihre Situation muss hierzulande Verbreitung finden. Internationalismus bedeutet auch, den Raum der Kämpfe an anderen Orten der Welt mit unserem Handeln zu erweitern, so wie er sich durch ihr Handeln für uns erweitert. Daran halten wir fest. Deswegen sind wir, seid Ihr, bist auch Du gefragt. Tragt diese Worte und diesen Kampf weiter.
Denn für die Verteidigung von Wahrheit und Gerechtigkeit kann es nur eine gemeinsame Antwort geben.
Interventionistische Linke, November 2022