Recht auf Stadt mit Rot-Rot-Grün?

Der Berliner Koalitionsvertrag und die Kampfbedingungen für stadtpolitische Bewegungen
Das Berliner Abgeordnetenhaus - hier im Bild noch ohne außerparlamentarische Opposition.

Von Vertrauen kann keine Rede sein. Denn als die rot-rote Koalition in Berlin 2011 ihr Amt räumen musste, hinterließ sie einen Scherbenhaufen. Gemeinsam mit Thilo Sarrazin (SPD) als Finanzsenator verantwortete PDS bzw. Linkspartei eine lange Liste neoliberaler Grausamkeiten von der Offensive für Studiengebühren bis hin zur Kürzung des Blindengeldes - alles im Namen der »Haushaltskonsolidierung« nach den Milliardenverlusten des Berliner Bankenskandals. Auf lokaler Ebene erlebte Berlin somit schon 2001/02, was ab 2008 ganz Europa erfasste: Bankenkrise, Staatsschuldenkrise, danach Austeritäts- und Sparpolitik als »Lösung«. Den längsten Schatten dieser Phase warf in Berlin die Privatisierung von über 100.000 landeseigenen Wohnungen, eine der direkten Ursachen für die heutige Wohnungsnot. Fünf Jahre später soll nun alles anders werden: Der rot-rot-grüne Senat verspricht Neubau und Re-Kommunalisierung. Haben Mieterproteste und die Recht-auf-Stadt-Bewegung damit ihre Ziele erreicht?

Neue Koalition und neuer Sprech
Noch im Sommer 2011 verteidigte in der Berliner Morgenpost (8.8.) Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg-Runge Reyer (SPD) mit den Worten »Stadtweit gibt es aber keine Wohnungsnot« die Politik von Rot-Rot in Berlin, die neben Privatisierungen den kompletten Ausstieg aus der Förderung von Sozialwohnungen gebracht hatte. Der sich anbahnenden Wohnungskrise begegnete man mit Leugnung, der Sparkurs galt als alternativlos. Schaut man nun auf den im November 2016 veröffentlichten rot-rot-grünen Koalitionsvertrag im Bereich Mieten und Wohnen, so ist ein auf den ersten Blick beeindruckender Kurswechsel zu erkennen.
Der Senat »unterstützt stadtweit Modellprojekte (...) für selbstverwaltete Mietergenossenschaften«, »das Land Berlin setzt sich beim Bund für eine Abkehr von Grundstücksverkäufen zum Maximalerlös ein«; »Spekulation insbesondere für Wohnimmobilien« soll so unterbunden werden, Bundesimmobilien stattdessen »in die öffentliche Hand Berlins« überführt werden. Neben Druck auf den Bund will Berlin auch »das Vorkaufsrecht zu einem effektiven Instrument entwickeln«, um Wohnungen und zum Wohnungsbau geeignete Flächen anzukaufen. Eine auf Druck des Berliner Mietenvolksentscheids von 2015 gegründete Anstalt öffentlichen Rechts soll die Steuerung dieser Ankäufe übernehmen. Sie soll die sechs landeseigenen Wohnungsgesellschaften auf Kurs bringen, damit sie ihren »Versorgungsauftrag« erfüllen und die »Neubaumieten für breite Bevölkerungskreise erschwinglich« bleiben. Das große Ziel: »Bis zum Ende der Legislaturperiode soll es 55.000 zusätzliche Wohnungen im Landesbesitz geben.«
Diese Passagen aus dem Koalitionsvertrag signalisieren eine grundsätzliche Wende gegenüber dem bis 2011 verfolgten Kurs. Statt einem Rückzug des Staates wird Staatsintervention angekündigt, Rekommunalisierung tritt an die Stelle der Privatisierungen, die sogar in der Landesverfassung verboten werden sollen.
Die seit der Finanzkrise 2008 in Berlin zu beobachtende Kapitalflucht ins »Betongold« mit dem zinssuchenden Kapital löste eine massive Preisspirale auf dem Wohnungsmarkt aus. Dagegen bildete sich in den letzten Jahren eine neue Generation von Protesten, die stetig zunahm und Ursache einer politischen Trendwende wurde. Neben ersten berlin- und bundesweiten Demos in den Jahren 2011 und 2013 waren es vor allem lokale Kiezinitiativen, die immer wieder Aufstände gegen Verdrängung vom Zaun brachen. In Berlin reichte das Spektrum von Lärmdemos mit der Initiative Kotti & Co (ak 606), den Kiezversammlungen von Bizim Kiez zur Verteidigung eines Gemüseladens (ak 608) bis hin zur Besetzung eines Seniorenheims durch Rentner_innen in der Stillen Straße im Jahr 2012. Die Eigenlogik und Vielfältigkeit dieser Kämpfe brachte Menschen verschiedenster Milieus zusammen, holte die radikale Linke raus aus der Subkultur und ins Gespräch mit den Nachbar_innen. Der Lokalismus dieser Proteste erschwerte jedoch lange ein gemeinsames Dach, das erst mit dem Mietenvolksentscheid des Jahres 2015 gefunden wurde. (ak 612) Er löste eine landesweite Debatte um einen Politikwechsel aus. Obwohl der Entscheid von der SPD durch ein geschicktes Erpressungsmanöver vom Tisch gewischt wurde, wirkt er bis heute nach. Teilforderungen wurden in einem Wohnraumförderungsgesetz umgesetzt, anderes findet sich im Koalitionsvertrag wieder, in dem jede einzelne fortschrittliche Zeile direkt auf stadtpolitischen Protest zurückzuführen ist.

Kleingedrucktes und Pferdefüße
Liest man den Koalitionsvertrag jedoch genauer, so wird deutlich, dass viele der bewegungsnahen Versprechen als vage Ankündigungen formuliert sind. »Die Koalition möchte geflüchtete Menschen zügig in Wohnungen unterbringen« heißt es etwa - kein Versprechen, sondern eine Absichtserklärung. Dies setzt sich anderswo fort - die Koalition »unterstützt«, »prüft«, »setzt sich ein« und »begleitet aktiv«. Nur für einen Teil der Maßnahmen wird die direkte Umsetzung formuliert: »Die Koalition schafft offene Mieterberatungen in allen Bezirken«, oder auch das Privatisierungsverbot von landeseigenem Wohnraum - man »schließt eine Privatisierung aus«. Doch selbst die 55.000 neuen Wohnungen als Kernversprechen sind eine Soll-Regelung.
Darüber hinaus werden die Voraussetzungen für eine Kursumkehr nicht einmal angesprochen: Das Immobilienkapital wird nicht höher besteuert, wie es u.a. über die Grunderwerbssteuer möglich wäre. Auch fehlen dem Vertrag regulierende Eingriffe in den privaten Mietwohnungsmarkt, obwohl hier ca. 80 Prozent der Berliner_innen wohnen. Stattdessen wird dem privaten Markt lediglich ein größerer öffentlicher Sektor zur Seite gestellt. Die hier angekündigten 55.000 Wohnungen werden jedoch nicht reichen, selbst eine im Auftrag der LINKEN im Abgeordnetenhaus erstellte Studie kam im Juni dieses Jahres zu dem Schluss, dass 130.000 leistbare Wohnungen in der Stadt fehlen.
Die Wohnungskrise wird also weitergehen, selbst wenn das Plansoll erfüllt wird. Von einer Kursumkehr kann also keine Rede sein. Denn die Wohnungsfrage wurde immer nur dann ansatzweise gelöst, wenn der profitorientierte Wohnungsmarkt zurückgedrängt wurde. An dessen Stelle muss Wohnen als Gemeingut stehen, in Form von kommunalen, genossenschaftlichen und selbstverwaltetem Wohnraum, der durch die Bevölkerung kontrolliert wird. Genau diese Vision in Richtung einer Vergesellschaftung fehlt jedoch im Koalitionsvertrag.

Die kommenden Kämpfe
Stattdessen finden wir im Vertrag eine ganz andere Verpflichtung: »Die Koalitionspartner verpflichten sich, darauf, das (...) strukturelle Defizit weiter zu reduzieren und bereits vor 2020 auf Null zurückzuführen.« Übersetzt ins Normaldeutsch heißt das: Ab 2020 gilt in Berlin die vom Bundesrecht verordnete Schwarze Null eines ausgeglichenen Haushaltes. Neue Schulden, auch für Investitionen, sind damit ausgeschlossen.
Zwar will Berlin in Zukunft nur noch 80 Millionen Euro jährlich zur Schuldentilgung einsetzen, deutlich weniger als bisher - dennoch zeigt der Haushaltsvorbehalt die Grenzen der neuen Wohnungspolitik. Sie darf die Schwarze Null nicht gefährden, die Austerität auf Landesebene geht weiter.
Der Haushaltsvorbehalt ist der größte Pferdefuß des Vertrages. Bereits am 10. November 2016 fand daher eine Protestaktion unter dem Motto »Weg mit der Schwarzen Null! Soziale Infrastruktur ist nicht verhandelbar« statt, die ein Ende der kommunalen Austerität in Berlin forderte. Die von antirassistischen und Care-Aktivist_innen, gewerkschaftlichen Aktiven und der Recht-auf-Stadt-Bewegung gemeinsam durchgeführte Aktion zeigt die Richtung an. Denn mit dem Finanzierungsvorbehalt stellt sich nicht nur in der Wohnungspolitik, sondern auch in vielen anderen Versprechen des Koalitionsvertrages die Frage der Umsetzung. Es wird daher in den nächsten fünf Jahren massive Machtkämpfe innerhalb des Senats geben. Hier wird die SPD-geführte Senatsverwaltung für Finanzen gegen alle Ressorts stehen, die im Koalitionsvertrag Ausgaben angemeldet haben. Gleichzeitig werden die einzelnen Ressorts untereinander um die Umsetzung der zahlreichen Soll-Kann-Darf-Ziele des Koalitionsvertrages konkurrieren.
Die Gefahr besteht, dass auch die sozialen Bewegungen der Stadt entlang dieser Linien gespalten werden: Die Ziele eines anstehenden Fahrradvolksentscheids gegen den kommunalen Wohnungsbau, die berechtigten Forderungen nach besserer Bezahlung der Lehrer_innen gegen die menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten. Nur eine gemeinsame Bewegung, die sich nicht spalten lässt und die die Schwarze Null der kommunalen Austerität frontal angreift, hat eine Chance, sich durchzusetzen. Die Bedingungen sind hier deutlich besser als auf Bundesebene, in der EU oder global. Denn Landespolitik ist konkreter und die radikale Linke hat die Chance, den Widerstand gegen Austerität als einen Kampf für ganz konkrete Interessen und Bedürfnisse zu führen und so neoliberale Deutungen zu durchbrechen. Erfolge auf Stadt- und Landesebene wiederum befruchten größere Kämpfe.
Eine soziale Einheitsfront von stadtpolitischen, antirassistischen, feministischen und gewerkschaftlichen Kämpfen gegen die Schwarze Null wäre auch das beste Mittel gegen den Rechtspopulismus der AfD, die in Berlin erschreckende 14,2 Prozent der Stimmen mobilisieren konnte. Die AfD setzt das Erbe von Thilo Sarrazin fort, der als Finanzsenator (2002-2009) nicht nur die soziale Infrastruktur der Stadt zerstörte, sondern auch das dazu passende sozialdarwinistische Menschenbild verbreitete. Sollte DIE LINKE sich noch einmal zum Komplizen einer solchen Politik machen, wird sie die AfD kaum überleben. Außerparlamentarische Opposition von links ist also gefragt in den nächsten fünf Jahren, in denen die einzige parlamentarische Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus von CDU, FDP und AFD gestellt wird.
 

Dieser Text der Stadt-AG der IL Berlin erschien zuerst in: analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 622 vom 13. Dezember 2016.