Im Folgenden wollen wir als Interventionistische Linke – einer Organisation, in der nur wenige Menschen mit Fluchterfahrung aktiv sind – erläutern, warum wir zur Parade mit aufrufen und am 16. September mit vielen anderen gemeinsam auf die Straße gehen werden.
Vom „Sommer der Migration“ zum langen Winter der Entrechtung?2015 haben Hunderttausende die mörderischen Grenzen Europas überwunden. Ihre Entschlossenheit setzte eines der wichtigsten aller globalen Rechte durch, für das immer wieder Ungehorsam gegen die Herrschenden geübt und Grenzen überwunden werden müssen: das fundamentale Recht auf Bewegungsfreiheit. Die Bewegung war nicht aufzuhalten. Sie kämpft für das Recht auf Rechte, für das Recht auf Anwesenheit und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Wie sieht es heute, zwei Jahre nach dem „Sommer der Migration“ in Deutschland und Europa aus?
Wir beobachten eine Migrationspolitik der massiven Entrechtung, die auch heute wieder von gesellschaftlichem Rassismus legitimiert und getragen wird. Deutschland ist schon lange eine Migrationsgesellschaft, nicht erst seit zwei Jahren, sondern seit Jahrhunderten. Doch angesichts erstarkender Rechtsparteien setzt die Politik – ob Große Koalition oder viele der rotgrün-regierten Bundesländer – darauf, Menschen über immer neue Asylrechtsverschärfungen zu entrechten, zu diskriminieren und abzuschieben. Hunderttausende wissen immer noch nicht, ob sie bleiben können, über 200.000 gelten als „ausreisepflichtig“ und zahlreiche Menschen leben mit einem Ablehnungsbescheid oder einer „Duldung“. Diese Menschen sind weiterhin Angst und Unsicherheit über ihre Zukunft ausgesetzt und werden daran gehindert ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Migrant_innen werden per Gesetz einsortiert in solche mit guter und solche mit schlechter Bleibeperspektive. Der Zugang zu „Integrationsleistungen“ wird an die Bleibeperspektive gekoppelt. Wer am meisten von Ausgrenzung betroffen ist, z.B. Roma und Romnija, wird dauerhaft in die Unsicherheit der Nicht-Anerkennung gedrängt. Um die Abschiebepraxis zu legitimieren, werden Geflüchtete kriminalisiert, als „Straftäter_innen“ und „Gefährder_innen“ diskriminiert, und Herkunftsstaaten als sicher konstruiert. Mittlerweile wird nicht einmal davor zurückgeschreckt, in offensichtliche Kriegsgebiete wie Afghanistan abzuschieben – die deutsche Asylpolitik geht hier über Leichen, wie erste Berichte über Abgeschobene, die bei Anschlägen getötet wurden, belegen.
Und auch für die, die bleiben dürfen, gelten keineswegs gleiche Rechte. Vor allem in Großstädten müssen immer noch Tausende in Unterkünften ausharren, weil der Zugang zum Wohnungsmarkt für sie faktisch versperrt ist. Von gesellschaftlicher und politischer Partizipation ganz zu schweigen: Rund 8 Millionen Menschen, die in diesem Land leben, dürfen nicht wählen – obwohl sie mitunter seit Jahrzehnten hier sind, ein Teil dieser Gesellschaft sind.
Institutioneller Rassismus legitimiert gesellschaftlichen Rassismus, beide bedingen sich gegenseitig. Es gehört zum Alltag, dass Geflüchtete und Migrant_innen angegriffen, beleidigt und geschlagen werden. Der NSU war hier nur die Spitze des Eisberges, Orte wie Freital oder Heidenau sind keine Einzelfälle. Dieser Normalisierung von Alltagsrassismus müssen wir entschlossen entgegentreten. Wir dürfen die rassistischen Morde und die Versuche ihrer Vertuschung nie vergessen.
Gleichzeitig nimmt die mörderische Grenzpolitik der Europäischen Union billigend Tod und Leid in Kauf. Das Mittelmeer ist inzwischen zum größten Seegrab der Erde geworden. Der Ausbau der Festung Europa wird mit allen Mitteln fortgesetzt, die Grenze immer weiter vorverlagert und mit korrupten und verbrecherischen Regimes wie der Türkei, Libyen, dem Sudan oder Eritrea werden dreckige Deals geschlossen. Dabei ist es Europa, das mit seiner imperialistischen und neokolonialen Wirtschaftspolitik für Armut und Fluchtgründe mit verantwortlich ist. Im Kontext einer weltweiten kapitalistischen Ökonomie gründet der Wohlstand des Westens auf der Ausbeutung der Ressourcen anderer Länder, auf „Freihandelsverträgen“, die zugunsten westlicher Firmen die Märkte vor Ort zerstören und Menschen ihrer Lebensgrundlagen berauben. Und anstatt endlich sichere Fluchtwege zu schaffen, werden jetzt auch noch die zivilen Seenotretter_innen kriminalisiert. Das Sterben soll also weitergehen?!
Hoffnung entsteht aus Selbstermächtigung und praktischer Solidarität
Trotz aller Misere gibt es Hoffnung. Die kleinen und großen Kämpfe, die Bemühungen, sich dem Unrecht der Ordnung zu widersetzen, gehören ebenso zum Alltag in diesem Land. Einige davon sind sichtbar und unzählige sind unsichtbar, sei es in der Ausländerbehörde, in der Unterkunft oder bei der Anmeldung in der Schule. Seien es die Berufsschüler_innen in Nürnberg, die mit Sitzblockaden die Abschiebung ihres Mitschülers stoppten, oder die zahlreichen Demonstrationen, Hungerstreiks und Protestaktionen selbstorganisierter Gruppen Geflüchteter. Hatten sich zahlreiche „Willkommensinitiativen“ 2015 noch auf die drängendsten Formen alltäglicher sozialer Hilfe beschränkt, haben nicht wenige mittlerweile begonnen, sich auch politisch zu positionieren. An diese Entwicklungen müssen wir anknüpfen, Prozesse der Selbstorganisation unterstützen und Solidarität organisieren. 2017 heißt das für uns u.a. gegen Abschiebungen aktiv zu werden – gegen die nach Afghanistan, gegen die in alle anderen Länder.
Die Idee einer solidarischen Stadt, einer Solidarity City, ist dabei für uns ein Leitbild, eine konkrete Utopie. Dahinter steht die Vorstellung, dass alle Menschen – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit – den gleichen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Rechten haben. Indem Fragen von Bleiben, aber auch von Gesundheit, Wohnen, Bildung und Arbeit, von der Zugehörigkeit zum Nationalstaat entkoppelt werden, wird eine neue, eine alternative Vorstellung des (städtischen) Gemeinwesens sichtbar. Gleichzeitig ist dies nicht nur eine Frage der Rechte von Migrant_innen: Kostenlose Gesundheitsversorgung oder bezahlbares Wohnen geht uns alle an, ob mit oder ohne deutschen Pass. In alltäglichen Projekten, sei es in der Beratung für Illegalisierte, in der Unterstützung bei Arbeitskonflikten oder in unseren sozialen Zentren, kann eine solidarische und rebellische Stadt von unten aufgebaut werden. Wenn der Sommer 2015 uns eines gezeigt hat, dann ist es, dass ein solidarisches Leben für Alle möglich ist und keine Utopie bleiben muss. Solidarität ist überall, sie ist unteilbar und sie ist das lebendige Gegenbild zu einer Gesellschaft des Egoismus, der Abschottung und des Wohlstandschauvinismus.
Eine Woche vor der Bundestagswahl wollen wir diese Solidarität aufzeigen, die Stimmen der Ungehörten sichtbar machen. Lasst uns deshalb weiter streiten – für die Anwesenheit und Rechte der Geflüchteten und Migrant_innen, gegen Abschiebungen, Rassismus und staatliche Entrechtung, für eine solidarische Gesellschaft!
Kommt am 16. September nach Berlin.