Die Crux der Produktivität

Von der Wachstums- zur Kapitalismuskritik

Was schenkt man jemandem, der schon alles hat? Noch ein Buch? Irgendwas Albernes? Viele schenken „Zeit“. Das Wichtigste ist, etwas zu schenken, was nicht noch mehr Stress macht. Vielleicht eine Kanutour – aber kein ganzes Wochenende. Oder Kochen, Kuchen, Kino? Oder einfach da sein, zusammen sein, schließlich ist Quality Time die Primetime von 2017.

Dieses Geschenkeproblem kennen wahrscheinlich viele, wenn eine Geburtstagseinladung eintrifft, aber: Warum das alles? Wofür dieser ganze Konsum, diese Dinge, dieser Stress?

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, selbst die G20 Vertreter*innen, die sich im Juli in Hamburg treffen werden, hielten Wachstumswahn für nicht zukunftsfähig; jedenfalls nicht im Sinne des „Wohlstands für alle“.

Postwachstumsökonomie
Seit einigen Jahren wurden viele alternative Wirtschaftsmodelle entwickelt. Manche halten es für möglich, mithilfe einiger staatlicher Interventionen, z.B. eines bedingungslosen Grundeinkommens, die bestehende Marktwirtschaft wieder sozial zu gestalten. Der Schritt zu einer 20-Stunden-Arbeitswoche scheint nicht mehr weit. Die Menschen würden dann feststellen, dass „wahres“ Wachstum nur ein „qualitatives“ Wachstum ist. Es bliebe mehr Freizeit, mehr Kreativität und die Möglichkeit sich zu organisieren.

Dieser Blick auf das Wachstum wird vor allem von der Postwachstumsökonomie vertreten. Es ist naheliegend, dass die Wirtschaft nicht immer so weiterwachsen kann, denn der Planet hat natürliche Grenzen. Eine Postwachstumtsökonomie verfolgt das Ziel der Wirtschaftsrücknahme. Der Merksatz dazu lautet: So regional wie möglich, so global wie nötig (Niko Paech). Ökonomie soll also wieder regionalisiert werden, um diese zu entflechten, übersichtlicher und menschenfreundlicher zu gestalten. So einfach, so gut. Oder?

Die Crux der Produktivität
Doch was meint eigentlich Wachstum? Oder besser gefragt: Woher kommt das Wachstum? Lässt sich Wachstum einfach abstellen? Wenn sich die G20-Vertreter*innen in Hamburg treffen und über „Wachstum“ sprechen, entscheiden sie sich nicht einfach dafür oder dagegen. Stattdessen ist Wachstum eine notwendige Bewegung im Kapitalismus. Auch wenn es manchmal den Anschein hat, als wäre es so, werden ja nicht Waren mit dem Ziel produziert, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um aus dem investierten Geld mehr Geld zu machen. Die Produktion und mit ihr die Bedürfnisbefriedigung ist Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst. Es geht schließlich darum, dass das vorgeschossene Geld mittels Produktion und Verkauf vermehrt wird. In diesem Fall wird Geld zu Kapital. Nun wird diese Bewegung durch eine andere Bewegung, die Konkurrenz, ergänzt. Auch diese ist keine moralische Einstellung, sondern notwendige Gegebenheit in einer Marktwirtschaft. Die Konkurrenz zwingt die einzelnen Produzenten zu mehr Produktivität (mehr Effizienz, bessere Technologien usw.), um einen Marktvorteil zu erlangen. Hier steckt gleichzeitig auch des Pudels Kern. Eine höhere Produktivität verringert den Wert der einzelnen Ware, deshalb müssen und können mit jeder effizienteren Technologie mehr Waren produziert werden. Der Prozess ist denkbar einfach. Um Mehrwert zu realisieren, müssen die Unternehmen sich auf dem Markt behaupten. Das geschieht durch erhöhte Produktivität, die gleichzeitig die einzelnen Waren entwertet und auf Grund der Marktkonkurrenz wird dieser Prozess angeheizt. Ergebnisse sind ständig wachsende Produktivität, ständig wachsende Märkte mit den ganzen bekannten Nebeneffekten (Umweltzerstörung, psychische und physische Krankheiten usw.). Doch entscheidend ist, dass dieser Prozess letztendlich nicht durch die Entscheidung für mehr oder weniger Wachstum gesteuert wird. Weniger Wachstum ist faktisch ein Konkurrenznachteil.

Das passende Geschenk
Die Analyse des Kapitalismus und die politische Interpretation der G20 wirken sich auch auf die Art des Protestes in Hamburg aus. Es reicht nicht, nach Hamburg zu fahren und Vorschläge für einen „gemäßigten“ Kapitalismus, eine „soziale Marktwirtschaft“ einzureichen oder – was angesichts des Sicherheitsapparats realistischer wäre – diese vom Absperrgitter reinrufen zu wollen. Es gilt, sich zu organisieren und der Welt und den G20 zu sagen: Wir wollen keinen Kapitalismus. Es gilt, in Hamburg für eine Welt jenseits von Wertform und Produktivitätszwang einzustehen. Oder wie es vor ein paar Jahren auf einem großen Blockupytransparent hieß: „Crisis demands decision – let‘s choose communism.“

In diesem Jahr ist also das passende Geburtstagsgeschenk ein Ticket nach Hamburg im Juli und das passt für diejenigen, die schon alles haben und für diejenigen, denen es an allem fehlt. Den Kapitalismus überwinden wir nur gemeinsam und Hamburg wird ein Ort auf dem Weg dahin sein.

»In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder ... in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.« – Karl Marx –

aus: Zeitung der Interventionistischen Linken

Weitere Beiträge aus der IL-Massenzeitung gegen den G20-Gipfel in Hamburg:

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Resilienzkapitalismus. Unsicherheit – das neue Narrativ
Kapitalismus oder Klimaschutz? – Von Paris nach Hamburg

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