Dieser Aufruf richtet sich an all diejenigen, die denken: Ich wohne ja nicht in der Liebig. An all diejenigen, die sagen, dass wir auf die konkreten Kämpfe fokussieren sollten, in denen es eine Chance gibt zu gewinnen. An all diejenigen, die meinen, dass linke Infrastruktur in Berlin nicht auf „subkulturelle Szeneräume“ angewiesen ist, sondern auf gesellschaftliche Verankerung. Dieser Aufruf richtet sich an euch, an uns.
So viel ist schon geschrieben worden und Wiederholungen sind langweilig. Deswegen nur drei Punkte, die uns wichtig sind:
(1) In einer neoliberalen Welt, in der über die Symbolik die Herrschaft an Materialität gewinnt, gewinnen die symbolischen Kämpfe an Materialität.*
(2) Ob und inwiefern wir mit dem anarcha-queer-feministischen Hausprojekt Liebig34 in politischen Fragen, in kulturellen Fragen oder in unseren Lebensentwürfen übereinstimmen, spielt keine Rolle. Relevant ist, dass die Liebig34 eine gelebte Alternative ist, unter anderem zum patriarchalen Kapitalismus. Eine Alternative öffnet den politischen Raum, sich zu positionieren, sie in Frage zu stellen, Dissens zu formulieren oder aktiv Konsens auszudrücken. Im besten Sinne stoßen Alternativen die Tore zu Diskussionen auf, in welcher Welt wir leben wollen.
Dort, wo nur Konsens herrscht, herrscht der Status quo. Dagegen steht die Liebig34 in jedem Fall für eine andere, für eine radikaldemokratische, feministische und antikapitalistische Gesellschaft. Der Angriff auf die Liebig34 ist insofern ein Angriff auf den Feminismus in dieser Stadt. Mit der Räumung eines solchen Projekts werden nicht nur linke Räume unwiederbringlich zerstört, sondern auch eine eigene gewachsene Organisierungspraxis sowie politische Zusammenhänge von Genoss*innen, die wir in gemeinsamer Bündnisarbeit schätzen gelernt haben. Menschen sind eben immer mehr als ihre körperlichen und politischen Teile.
(3) In vielen linken Diskussionen wird heute lamentiert, die (radikale) Linke müsse wieder authentischer werden. Was darunter verstanden wird, ist oft genauso vielfältig wie umstritten. Wir aber glauben, dass Authentizität auf jeden Fall bedeutet – genauso wie man mit der Nachbarschaft für gerechte Mieten kämpft – das eigene Zuhause zu verteidigen, wenn die vier Wände eingerissen werden sollen; und das mit allen Mitteln. Was gibt es glaubwürdigeres als das Zuhause, den Ort, wo man sich wohlfühlt, dort wo die (Wahl-)Familie ist, wo man ausgelassen sein kann und keiner Affektkontrolle unterworfen ist, mit Händen und Füßen zu verteidigen? Eine solche Einstellung ist authentisch, weil sie kämpft um der Idee willen und nicht, weil sie ökonomistisch abwägt, ob es etwas zu gewinnen oder zu verlieren gibt. Wer Letzteres auf Dauer tut, geht in der Logik des Kapitals auf, nicht nur in Bezug auf die berufliche Laufbahn, sondern auch in seinen sozialen Beziehungen. Die geräumten und bedrohten Projekte sind deshalb auch unsere Projekte. Unvergessen bleiben die Abende und Nächte, die viele von uns dort verbracht und gemeinsam Ideen geschmiedet haben, nicht zuletzt auch, um den herrschenden Institutionen eins auszuwischen.
Der Kampf der Friedel54, des Syndikats, der Potse, der Meute, der Liebig34 mit Infoladen Daneben, der Rigaer94 mit Kaderschmiede etc. pp. steht wegen all dem für so viel mehr als die letzten verbliebenen Reste einer linksradikalen Blase. Sie stehen für die Perspektive, dass die radikale Linke keine Blase sein muss.
Anfang Oktober auf nach Berlin! Alle Termine: https://interkiezionale.noblogs.org und http://liebig34.blogsport.de
Interventionistische Linke Berlin, September 2020
__________________
* Symbolische und materielle Herrschaft sind miteinander verschränkt: Die hegemoniale Bild- und Symbolproduktion (z.B. Körperideale oder Werbung) schreibt sich in unsere Körper ein, sie prägt unser Verhalten und Denken, sie (re-)produziert damit Unterdrückungsstrukturen. Die Liebig34 und ihre Verteidigung greifen die herrschende Ordnung an – und zwar symbolisch-materiell.