Zweites Statement der IL Berlin zum Krieg in Israel/Palästina

Trotz aller Widrigkeiten halten wir eine differenzierte Auseinandersetzung zum Thema Israel/Palästina für notwendig. Mit diesem Diskussionsbeitrag versuchen wir, dazu beizutragen

Einstieg und Ziel des Textes
Seit Monaten gehen tausende Palästinenser:innen und solidarische Linke fast wöchentlich trotz Gewalt und Kriminalisierung auf die Straße. Sie machen auf das unermessliche Leid aufmerksam, welches in Gaza durch die israelischen Bombardierungen und die zahlreich begangenen Kriegsverbrechen geschieht und setzen sich für ein sofortiges Ende von Krieg, Belagerung und Besatzung ein. Für alle, die es sehen wollen, ist angesichts von fast 35.000 toten Palästinenser:innen, Hunger als Waffe und genozidalen Äußerungen führender rechtsextremer Politiker:innen der israelischen Regierung klar, dass mit Unterstützung Deutschlands ein Krieg gegen die gesamte Zivilbevölkerung Gazas stattfindet. Die Nicht-Beteiligung vieler (besonders weiß dominierter) linker Gruppen fällt auf, ihr (schweigendes) Nicht-Verhalten wird zurecht kritisiert.

Von der rechten Regierung in Israel kann kein ernstzunehmender Frieden in der Region erwartet werden, genauso wenig wie von der Hamas. Es braucht internationalen Druck und die deutsche Bundesregierung ist in der Position diesen Druck aufzubauen. Wir sehen uns und alle progressiven Kräfte in der Verantwortung, sich für einen sofortigen Waffenstillstand, ein Ende von Belagerung und Besatzung (1), eine Befreiung der verbliebenen Geiseln und zivilen, palästinensischen Gefangenen, sowie Frieden, Sicherheit, Freiheit und gleiche Rechte für alle Menschen in der Region einzusetzen.

Trotzdem beteiligen wir uns bisher als Organisation nicht an den in Berlin meist an Samstagen stattfindenden Demonstrationen verschiedener Bündnisse, die in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung auf der Straße sind – auch wenn viele von uns als Einzelpersonen hingehen. Viele von uns verspüren großen Frust über diese Nichtbeteiligung. Wir haben versucht aktiv zu werden - mit unserem anfänglichen Statement, einer Kundgebung und Gesprächen, diese Ansätze werden aber der Dringlichkeit der Situation für viele nicht gerecht. Diese Passivität hat eine Geschichte: Lange haben wir uns bewusst dagegen entschieden, eine Position oder Praxis zu Israel/Palästina zu entwickeln. Angesichts der teils absurden Konflikte und Spaltungslinien, zu denen das Thema in der deutschen Linken geführt hat, vielleicht eine zumindest nachvollziehbare Entscheidung. Doch in den letzten Jahren kam es nicht nur wiederholt zu Eskalationen des Krieges, diese hatten auch Konsequenzen in der deutschen Gesellschaft, u.a. steigenden Antisemitismus und eine sich zuspitzende Kriminalisierung der palästinensischen Bewegung (Stichwort BDS-Resolutionen). Wir haben in dieser Situation zu spät angefangen, eine gemeinsame Analyse zu entwickeln, von einer Praxis waren wir im Oktober 2023 weit entfernt.

Da unser Fernbleiben als Organisation von vielen als Entsolidarisierung erlebt wurde, wollen wir mit diesem Text unsere grundsätzliche Solidarität mit den Anliegen der Proteste ausdrücken und zugleich erklären, warum wir als Gruppe nach wie vor an der Frage gespalten sind, ob wir uns den Aufrufen der Demos anschließen wollen. Es ist der Versuch ein kritisch-solidarisches Verhältnis zu formulieren, das Widersprüche und Fragezeichen zulässt, anstatt sich weiter in Schweigen zu hüllen.
Uns ist bewusst, dass die kritisch-solidarische Auseinandersetzung in diesem Text in einem gesellschaftlichen Klima gelesen wird, in dem die massive Repression von staatlicher Seite, wie auch ihr Niederschlag in vielen zivilgesellschaftlichen und kulturellen Institutionen, nicht nur von einem berechtigten Interesse an einer Bekämpfung von Antisemitismus, sondern auch von antimuslimischem und antipalästinensischem Rassismus geprägt ist. Viele kritische Bezugnahmen auf die israelische Politik oder Solidaritätserklärungen mit den palästinensischen Opfern des Krieges werden als antisemitisch delegitimiert und Antisemitismus als „importiertes“ Produkt in eine angeblich geläuterte deutsche Gesellschaft externalisiert. Das hat sehr konkrete Folgen für viele Menschen, von Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, Jobverlust, Absagen von Veranstaltungen und Preisverleihungen, physischen Angriffen, digitalen Shitstorms bis zu Angriffen auf ihre Familien in Israel. Wir verurteilen die Kriminalisierung der Proteste und sind solidarisch mit den von Repression Betroffenen. Wir glauben dennoch, dass eine innerlinke Kontroverse über politische Differenzen auch unter diesen erschwerten Bedingungen stattfinden können muss.
Eine differenzierte Position und Analyse braucht Zeit und Raum. Doch wie sich Zeit nehmen, während im Krieg täglich Menschen sterben? Wie sich Raum nehmen, wenn die Räume so stark schrumpfen? Auch wenn unsere Analysen und Positionen mit Sicherheit nicht der Weisheit letzter Schluss sind, wollen wir sie festhalten, um auf dieser Grundlage handlungsfähiger zu werden. Denn eines ist klar: wir haben uns zu wenig rausgewagt, in der Angst Fehler zu machen. Wir waren nicht am Start, als Cafés durchsucht und Genoss:innen kriminalisiert wurden.

Einige inhaltliche Eckpfeiler unserer Analyse des Krieges und seiner Hintergründe
Kurz nach dem 7. Oktober haben wir ein erstes Statement verfasst, in dem wir vor allem bemüht darum waren, das Leid auf beiden Seiten anzuerkennen. Das war zu diesem Zeitpunkt - kurz nach dem Massaker der Hamas und den ersten Bombardierungen auf Gaza - absolut angebracht. Leiden ist nicht quantifizierbar, das Leiden der einen Seite relativiert nicht das der anderen. Doch der Konflikt in Israel/Palästina ist kein symmetrischer. Seit Jahrzehnten etabliert sich in der Region ein Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis, das viele Menschenrechtsorganisationen als Apartheid bezeichnen. Dabei wird der Begriff auf verschiedene Art verwendet und es gibt große Unterschiede darin, ob mit Apartheid vor allem die Situation in der Westbank und in Gaza gemeint ist oder der Begriff sich auch auf das israelische Staatsgebiet von 1948 bezieht. Palästinenser:innen im Westjordanland und in Gaza sind in vieler Hinsicht entrechtet, Siedler:innen versuchen den Konflikt mit Unterstützung der israelischen Regierung durch Landnahme für sich zu entscheiden und mittels der Abschottung Gazas, militärischer Gewalt und Hetze wird Palästinenser:innen zunehmend die Lebensgrundlage genommen.
Trotzdem halten wir Analysen, welche den Staat Israel allein als koloniale Macht interpretieren, für unzureichend. Der frühe Zionismus war eine politisch heterogene, aber vor allem zivile Bewegung, deren Motivation sich schon vor dem Nationalsozialismus auch aus antisemitischen Pogromen in West- und Osteuropa speiste. Er verband fraglos siedlungskoloniale Motive (u.a. mit der Parole „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“) mit klassischen Elementen von Befreiungsbewegungen. Der Zionismus fand Sympathisant:innen auch in Teilen der nicht-jüdischen Bevölkerung (zum Teil aus antisemitischen Motiven, als eine Antwort auf die „Jüdische Frage“). Bis 1948 war Großbritannien die Kolonialmacht in der Region, die sich mit der Balfour Deklaration (1917) offiziell mit einem zionistischen Projekt grundlegend einverstanden erklärte, auch wenn die konkrete Politik vor Ort diesbezüglich deutlich ambivalenter war. Im größeren Stil intensivierte sich dann notwendigerweise die jüdische Migration aufgrund der massiven Verfolgung von Jüd:innen nach 1933 in Deutschland, die in die Shoah gipfelte. Die Staatsgründung Israels ist ohne diese nicht zu verstehen.
Im Kontext der Staatsgründung ereignete sich die Nakba („Katastrophe“), welche nach Ablehnung des UN-Teilungsplans 1947 und bis zum Waffenstillstand 1949 des ersten arabisch-israelischen Krieges stattfand und die Flucht und Vertreibung von etwa 750.000 Palästinenser:innen aus dem heutigen Staatsgebiet Israel bezeichnet. Für viele Palästinenser:innen ist die Nakba zudem kein abgeschlossenes Ereignis, sondern dauert vielmehr an und prägt den Lebensalltag vieler Palästinenser:innen.
Die Geschichte dieser Region ist komplex und sie in einfache, schematische Erzählungen einzufügen, führt zu Verzerrungen. Den einen scheint es heute schwer Israel als „Täter“ zu sehen - sie relativieren die Verbrechen der Armee, beschönigen die Besatzung und markieren alles als antisemitisch, was den Staat ansatzweise kritisiert. Den anderen scheint es unmöglich, die Geschichte der Staatsgründung Israels als Folge des europäischen Antisemitismus und der Shoah zu verstehen. Israel als Schutzraum für viele Jüd:innen und Juden und gleichzeitig als „Täter“ - dieser Komplexität müssen wir uns als Linke stellen.

Wir finden es gibt gute Argumente, besonders in Bezug auf die systematische Besiedlung der Westbank oder die rassistische Unterdrückung dort von (Siedler-)Kolonialismus oder mindestens Elementen davon zu sprechen und auch dafür, die Strukturen dort mit dem Apartheidsbegriff als spezifische Form der Herrschaft zu beschreiben. Wir sind uns aber uneinig darüber, ob wir die Verwendung dieser Begriffe produktiv finden, weil sie oft weniger als Zustandsbeschreibung, sondern als Kampfbegriffe genutzt und verstanden werden. Die Auseinandersetzung um die Begriffe erschwert es oft, in eine Debatte zu kommen, die Möglichkeiten für gemeinsame Kämpfe gegen die schreckliche Situation der Menschen vor Ort eröffnet.
Eine verallgemeinerte positive Darstellung aller antikolonialer Widerstandsformen ignoriert unseres Erachtens auch die Tatsache, dass antikoloniale Bewegungen politisch heterogen waren und sind und dass es in ihnen immer vielfältige Diskussionen über Sinn und Legitimität verschiedener Widerstandsformen gab. Insofern: Auch in Bezug auf antikoloniale Kämpfe gilt, dass wir uns als Linke in die Tradition der emanzipatorischen Kräfte innerhalb von Widerstandsbewegungen stellen wollen - Kräfte, die nicht zu selten von ihren eigenen Alliierten zum Schweigen gebracht wurden.

Aber die Auseinandersetzung um den Kolonialismusbegriff ist für uns nicht nur eine Frage der Vergangenheit, sondern vor allem der Zukunft: Denn im Kontext der palästinensischen Befreiungsbewegung ist es essentiell, dass eine Lösung für alle - Israelis und Palästinenser:innen - gefordert und gefunden werden muss.

Der 7. Oktober 2023
Natürlich haben Palästinenser:innen ein Recht auf Widerstand. Widerstand kann in bestimmten Situation legitimerweise auch Gewalt beinhalten. Was am 7.10. passiert ist, bewegt sich für uns jedoch weit außerhalb der Grenzen von politisch legitimem Widerstand.
Es war ein von Antisemit:innen begangenes Massaker, es wurde gemordet, vergewaltigt, verschleppt und wir finden jede relativierende oder gar verleugnende oder positive Bezugnahme darauf zutiefst falsch. Wir wissen, dass viele Demonstrierende dies genauso sehen. Gerade deshalb verstehen wir nicht, warum entsprechende, den 7. Oktober verherrlichende Statements teils nie gelöscht, geschweige denn ihre Veröffentlichung kritisch reflektiert wurde. Wir wissen auch, dass die Hamas für relevante Akteure in der Bewegung einen politischen Gegner darstellt. Insofern verstehen wir, dass es im aktuellen rassistisch geprägten Diskurs anstrengend ist, mit der Hamas identifiziert zu werden, solange man sich nicht explizit von ihr abgrenzt. Das nicht zu tun und gleichzeitig immer wieder zu betonen, dass die Massaker des 7. Oktober als eine Reaktion auf jahrzehntelange Besatzung verstanden werden müssen, kann aus unserer Perspektive aber als Rechtfertigung gelesen werden und lässt die Interpretation zu, dass im Rahmen des Befreiungskampfes im Zweifelsfall auch Allianzen mit Islamisten in Kauf genommen werden. Das finden wir falsch, auch weil die Hamas und ihre Verbündeten Teil des Systems Belagerung sind und nicht dessen Gegner. Die Hamas braucht die regelmäßige Eskalation des Konfliktes zum Machterhalt, ähnlich wie die Netanjahu-Regierung. Und selbst wenn sie ein ernsthaftes Interesse an einem Ende der Belagerung hätte, wird es mit ihr keine Befreiung der palästinensischen Bevölkerung geben, sondern nur den Wechsel vom einen repressiven Herrschaftsregime zum anderen. In Gaza werden von ihr systematisch politische Gegner:innen verfolgt und teils ermordet, Demokratiebestreben unterdrückt, Menschen aufgrund von Geschlecht und Sexualität entrechtet, marginalisiert oder verfolgt und ein zutiefst korruptes, patriarchales System installiert, dass sich um die Stabilisierung der eigenen Herrschaft dreht und nicht um die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung.

Wir finden zudem in der Logik „sowas kommt von sowas“, also der Bewertung des 7. Oktober als unvermeidliche Folge der Besatzung Israels, liegt auch ein nicht ernst Nehmen des palästinensischen Widerstandes. Denn tun wir dies, dann müssen wir den 7. Oktober auch als politisches Handeln von politischen Subjekten begreifen, die eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und nicht nur blind auf die Gewalt Israels reagieren. All dies wiegt unseres Erachtens politisch schwer genug, um trotz aller in der Aufforderung liegenden rassistischen Zuschreibung lieber einmal zu viel als einmal zu wenig über das Stöckchen ‚Abgrenzung‘ zu springen. Nicht mit dem Ziel die rassistische Zuschreibung zurückzuweisen, sondern mit dem Ziel eine Klarheit zu schaffen, die sicherstellt, dass der eigene Protest nicht als Legitimation des Massakers gedeutet werden kann und Menschen, die das so sehen, nicht auf die Demos kommen.
Der 7. Oktober war der Ausgangspunkt der aktuellen Eskalation in Gaza. Dass man ihn jetzt, nach sechs Monaten Bombardierung und fast 35.000 Toten, nicht mehr in jedem Aufruf benennen muss, finden einige von uns nachvollziehbar und andere nicht - dass man das aber schon in den ersten Wochen danach nicht getan hat, ist für uns unverständlich. Das war oder zumindest wirkte wie Ignoranz gegenüber dem Leid der israelischen Zivilbevölkerung. Für uns ist im Rahmen von Protesten zum Krieg in Israel/Palästina ein klares Bekenntnis zur Sicherheit auch jüdischen Lebens in der Region essentiell. Nicht als Selbstvergewisserung, sondern aus grundsätzlicher Überzeugung heraus und auch als klare Positionierung nach innen wie außen, dass Jüd:innen sich auch hier auf den Protesten sicher fühlen können. Denn Antisemitismus ist ein Problem in der deutschen Gesellschaft und auch in der Linken eine verbreitete Realität.

Antisemitismus in der Linken und darüber hinaus
Genauso, wie antimuslimischer und antipalästinensischer Rassismus nicht nur ein Problem der deutschen Gesellschaft, sondern auch der deutschen Linken sind, trifft dies auch auf Antisemitismus zu. Es gab immer Antisemitismus unter Linken, sogar einen spezifisch linken oder zumindest sozialistischen Antisemitismus, z.B. in der sowjetischen, besonders stalinistischen Staatspropaganda. Natürlich ist der Antisemitismus der Rechten (viel) gewaltvoller, der Antisemitismus der Mitte gesamtgesellschaftlich das größere Problem, aber für Antisemitismus in der Linken sind wir unmittelbar verantwortlich. Genauso wie in Bezug auf Rassismus und andere Unterdrückungsformen wünschen wir uns nicht nur im Kontext der Demos, sondern in der Linken allgemein einen selbstkritischen Umgang mit Antisemitismus.
Dabei wissen wir, dass dies enorm dadurch erschwert wird, dass (besonders in Israel und Deutschland) im Namen der Antisemitismusbekämpfung jeder schärferen Kritik an der israelischen Regierung Repression droht. Das ist auch eine Erfahrung von vielen jüdischen Menschen (Bsp. Berlinale). Das heißt aber wiederum im Umkehrschluss nicht, dass israelbezogener Antisemitismus ausschließlich eine Erfindung rechter Propaganda ist. Auch hier müssen wir Ambivalenzen aushalten, den schmalen Grat statt das vereinfachte Freund-Feind Schemata finden. Gegen den Krieg zu sein, das Unrecht, was den Palästinenser:innen u.a. durch die israelische Regierung widerfährt und ihr Recht auf Frieden, Sicherheit und Rechte, als solches zu benennen, ist nicht antisemitisch. Dennoch artikuliert sich Antisemitismus seit der Shoa üblicherweise auf Umwegen und ein beliebter Umweg ist eine ‚Israelkritik‘, in der Israel als jüdischer Staat zur Projektionsfläche für all das wird, was früher ‚dem Juden‘ zugeschrieben wurde.

Jüdische Linke haben immer wieder schlechte Erfahrungen gemacht (und artikuliert), wenn sie auf (selbst erlebten) Antisemitismus in der Linken aufmerksam gemacht haben. Im Kontext der Demos werden jetzt Leid und Unrecht, welches der israelisch-jüdischen Zivilbevölkerung am 7. Oktober angetan wurde oder die Forderung nach einer Befreiung der Geiseln, nicht benannt und insofern implizit als weniger wichtig gekennzeichnet was zeitgleich in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext geschieht, in dem antisemitische Gewalt seit der erneuten Eskalation des Konfliktes auch in Deutschland massiv gestiegen ist. Vor diesem Hintergrund gilt es anzuerkennen, dass einige Jüd:innen und Juden sich von Positionen im Kontext der Demos bedroht fühlen. Für uns ist steigender Antisemitismus genauso Teil der Situation in Berlin, zu der wir uns verhalten müssen, wie steigender (antimuslimischer) Rassismus.
Und trotzdem müssen wir uns selbstkritisch fragen: Wo hört politisch begründetes Abwägen auf und wo fangen Doppelstandards an? Legen wir andere Maßstäbe an palästinasolidarische Demos an als an andere Bündnispartner? Und welche politische Auswirkung hat unser Zögern im Ringen um eine solidarische Position?

Der israelische Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung
Der israelische Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung sticht mit seinen hohen zivilen Opfern selbst aus dem Leid der vielen Kriege der letzten Jahre hervor. Laut UN sind mit 14.500 getöteten Kindern in nur 6 Monaten mehr Kinder ermordet worden als in allen Kriegen der letzten 4 Jahre weltweit zusammen. Fast 35.000 Opfer und eine unbekannte Zahl, die noch zusätzlich unter den Ruinen gesprengter Häuser liegen könnten, lassen sich schwer begreifen. Systematisch blockiert Israel laut internationalen Menschenrechtsorganisationen außerdem die Versorgung der Zivilbevölkerung mit dem Elementarsten. Laut UN sind über 500.000 Menschen akut vom Hungertod bedroht. Systematisch hat Israel Wohngebäude und zivile Infrastruktur bis auf die Grundmauern zerstört. Unzählige eindeutige Kriegsverbrechen, wie das Erschießen von unbewaffneten Zivilist:innen, wurden von israelischen Soldat:innen selbst freimütig auf Social Media geteilt. Angepeitscht werden diese Verbrechen direkt von einer Israelischen Regierung aus religiösen Fundamentalist:innen, Rechtsextremen und Rechtspopulist:innen.
In ihrer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof hat Südafrika unzählige genozidale Äußerungen der Führung von Staat und Militär dokumentiert. Die Verengung auf die Frage von Genozid, um die Schwere der Verbrechen auszudrücken, führt dabei aber in die Irre. Ob Israels Regierung einen Genozid begeht, wird der IGH u.a. an der Frage entscheiden, ob eine Absicht zur Auslöschung nachweisbar ist. Die systematischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dieses Krieges werden aber nicht kleiner, wenn Israels nachweisbare Absicht statt Auslöschung und Wiederbesiedlung (was Teile der Regierung eindeutig propagieren) nur Rache und kollektive Bestrafung wäre. Den Vorwurf des Genozids schlicht und generell als antisemitisch abzuqualifizieren, wie es momentan so häufig passiert, finden wir jedenfalls falsch.
Im Westjordanland ist nach dem 7. Oktober die Entrechtung, Vertreibung und Landnahme durch rechtsterroristische Siedler:innen und das Militär eskaliert. Hier wird deutlich, dass die israelische Rechte auch unabhängig von der Hamas die im Koalitionsvertrag der Regierung festgehaltenen Ausdehnung Erez Israels vom Fluss bis zum Meer praktisch angeht. Diese Ausdehnung würde Jüd:innen und Juden in Israel perspektivisch zu einer Minderheit machen. Deshalb wird nicht nur die Ausweitung der Siedlungen, sondern auch die systematische Zerstörung der Lebensgrundlagen der palästinensischen Bevölkerung angegangen um diese perspektivisch zur Flucht zu zwingen. Rechtsterroristische Siedler:innen erhalten dabei nicht nur beim Abbrennen von Autos und Olivenhainen, sondern auch bei offenem Mord und Vertreibung die Rückendeckung durch das Militär und werden von der rechtsextremen Regierung direkt mit Waffen versorgt.

Schweigen ist keine Lösung…
Nichtstun ist in der aktuellen Situation keine legitime Option, auch wenn wir sie selber zu oft und zu lange gewählt haben. Aktuell gilt es für uns als Linke vereint mit anderen für das Ende dieses Krieges auf die Straße zu gehen. Die unzähligen Toten, die begonnene Offensive auf Rafah, der Einsatz von Hungersnot als Kriegswaffe und der ausbleibende Gefangenendeal sind Gründe genug. Als in Deutschland organisierte Gruppe gilt es außerdem, Kritik an der deutschen Regierung zu üben, die den Krieg mit Waffen und Worten unterstützt. Mehr noch: Im von Südafrika angestrebten Genozid-Verfahren gegen Israel delegitimiert Deutschland das Völkerrechtsverfahren, indem es auf Seiten Israels beitritt und die Vorwürfe als absurd bezeichnet, anstatt das Gericht und deren Urteilsspruch zu unterstützen. Eine solche Politisierung unterminiert im Namen der historischen Verantwortung das Völkerrecht anstatt dessen Universalität - aus derselben historischen Verantwortung - zu schützen.
Wir leben in einer postmigrantischen Stadt und einer postmigrantischen Linken. Viele Menschen, die zu den Samstags-Demos gehen sind unmittelbar betroffen, gehören zur palästinensischen und israelischen Diaspora oder haben unabhängig davon Freund:innen oder Familie in der Region verloren, bzw. wissen sie in unmittelbarer Gefahr. Nicht alle gehen auf die Demos, sondern verschaffen sich auch anders Gehör, die Demonstrationen sind nicht der einzige Ort, um sich solidarisch zu positionieren. Aber unser Fernbleiben von den Demos vergrößert aktuell die Kluft innerhalb der postmigrantisch geprägten Berliner Linken. Die Demos werden rassistisch marginalisiert und kriminalisiert. Auch vor dem Hintergrund eines massiven Rechtsrucks und der damit einhergehenden akuten Gefahren halten wir es für wichtig, dem entgegen zu wirken.

Für manche von uns wiegen diese Argumente schwerer als die skizzierten inhaltlichen Differenzen oder sie empfinden diese Differenzen als gar nicht so stark. Für andere stellen die inhaltlichen Differenzen ein unüberbrückbares Hindernis für eine gemeinsame politische Praxis dar. Und so versuchen wir als Organisation auch hier Unterschiede auszuhalten, um aus unserer Lähmung zu kommen: während sich ein Teil von uns weiter den Demos anschließen wird, wird ein anderer Teil versuchen andere Wege und Bündnispartner:innen zu finden. Bei aller unserer Unterschiedlichkeit eint uns der Wunsch, zu einfach gezeichneten Dichotomien zu entkommen. Wir setzen uns weiter für solidarische Bündnisse und Wege des Protests ein, die Frieden, Sicherheit und gleiche Rechte für alle Menschen in der Region fordern und hier vor Ort Rassismus, Antisemitismus und politische Repression gleichermaßen anprangern. Dieser Krieg muss enden, ceasefire now!

Interventionistische Linke Berlin, 7. Mai 2024

____________________________
(1) Wir haben den Begriff „Besatzung" und welche Grenzziehungen wir damit meinen, nicht ausdiskutiert. Die meisten beziehen sich dabei auf die im Sechstagekrieg 1967 annektierten Gebiete und die Gebiete, die defacto israelischer Kontrolle und Macht unterliegen (Westjordanland und Gaza).