Der Berliner Mietenvolksentscheid forderte einen Politikwechsel gegen die Wohnungsnot. Zehntausende unterstützten ihn im Sommer 2015 mit ihrer Unterschrift. Schnell lenkte der Senat mit einem eigenen »Wohnraumförderungsgesetz« ein, das im November verabschiedet wurde: Berlin baut wieder Wohnungen in öffentlichem Eigentum. Dennoch herrschen gemischte Gefühle: Hat der Volksentscheid seine Ziele erreicht oder die Bewegung vereinnahmt?
Ein großer Wurf
Ursprung des Mietenvolksentscheids war die Erfahrung von wachsenden, aber in Kieze und Lokalinitiativen zerstreuten Mieterprotesten. Massenhafte Zustimmung erhielten die Proteste im Mai 2014 durch den Volksentscheid 100-Prozent-Tempelhofer-Feld: Trotz Wohnungsnot lehnten 700.000 Menschen den Neubau auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof ab, weil die dort vorgesehenen Wohnungen schlicht zu teuer waren. Nach dieser Klatsche für den Senat stellte sich die Frage, wie die stadtpolitische Szene Berlins eine positive Antwort gegen die Wohnungsnot formulieren könnte. Im Bündnis Mietenvolksentscheid diskutierten ab August 2014 verschiedene Gruppen und formulierten einen Dreischritt: Erstens sollte mit einem fest finanzierten Wohnraumförderfonds Ankauf und Neubau ermöglicht werden. Die so geschaffenen Wohnungen sollten vom Land verwaltet werden, konkret durch die sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Diese wollte man in einem zweiten Schritt in »Anstalten öffentlichen Rechts« umwandeln, um sie besser kontrollieren zu können und Mitbestimmung für Mieter_innen zu schaffen. Drittens sollte durch ein neues Sozialwohngeld die Vertreibung von Mieter_innen im alten sozialen Wohnungsbau verhindert werden - hier waren nach dem Wegfall der Sozialbindungen die Wohnungen teurer als im Privatsektor.
Der Volksentscheid wollte somit den Bruch mit dem bisherigen Berliner Filz, bei dem der Staat mit viel Geld privaten Wohnungsbau bezahlte und dafür einige Jahre Sozialbindung bekam, aber kein Landeseigentum bildete. Mit der Konzentration auf den öffentlichen Wohnungssektor wurde jedoch auf Eingriffe in den privaten Wohnungsmarkt verzichtet - das Mittel Volksentscheid ist ans Landesrecht gebunden und schließt Maßnahmen wie etwa eine Mietobergrenze aus. Die Idee war daher, solche Forderungen in einer radikaleren Begleitkampagne zu formulieren - diese kam jedoch wegen Überforderung nicht zustande.
Die Idee einer sozialen Gestaltung des Wohnungsmarktes von unten hatte enorme Mobilisierungskraft unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes. Das Bündnis Mietenvolksentscheid zog zahlreiche Gruppen an, die sich in einem wöchentlichen Aktivenplenum trafen. Ein Koordinierungskreis sollte für Ansprechbarkeit und Infrastruktur zuständig sein. Die Interventionistische Linke Berlin (IL Berlin) war in beiden Gremien präsent, andere tragende Gruppen waren vor allem die Initiative Kotti & Co, die seit mehreren Jahren Sozialmieter_innen rund um das Kottbusser Tor (Berlin Kreuzberg) mobilisierte, sowie Aktive des linken Studierendenverbandes SDS. Hinzu kamen eine ganze Reihe von Einzelpersonen. Hier gab es einerseits im Ko-Kreis eingebundene Expert_innen, die bei der Formulierung des mit 60 Seiten sehr komplexen Gesetzes stark mitgewirkt hatten. Andererseits beteiligten sich auch viele langjährig Aktive aus der linken Szene sowie kleinere Nachbarschaftsgruppen, die ein wichtiges Bindeglied in die Stadt bildeten. Offizieller Einreicher des Volksentscheides war ein eingetragener Verein, der jedoch öffentlich keine Rolle spielte. Wichtig für die Entwicklung war das Zusammenspiel von Ko-Kreis, Aktivenplenum und vielen lose angebundenen Leuten, die in ihren Nachbarschaften Unterschriften sammelten.
Dieses Zusammenwirken funktionierte in der ersten Phase fast reibungslos. Die mögliche Gesetzeswirkung sorgte von Anfang an für viel Presse, der Volksentscheid reichte weit über klassisch linke Milieus hinaus. Völlig unabhängig vom Bündnis beteiligten sich Kneipen, Kioske, Hausgemeinschaften und schickten volle Sammellisten.
Zwischen Kampagne und Bündnis
Die Rekordzahl von 48.500 Unterschriften während der ersten Phase übertraf nicht nur das gesetzliche Ziel von 20.000, sondern auch die Erwartungen aller Aktiven. Vorgeschrieben war nun eine zweite Sammelphase mit deutlich höherem Limit, die das Bündnis für eine Intervention in den Landeswahlkampf 2016 nutzen wollte. Ziel war die Durchführung des Volksentscheides parallel zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses im September 2016. Das Thema Wohnungsnot sollte den Parteien entrissen und auf der Straße verhandelt werden. Der Kampf um den Termin war zudem wichtig, weil ein vergleichbarer Volksentscheid zur Re-Kommunalisierung des Berliner Stromnetzes an zu niedriger Wahlbeteiligung gescheitert war, nachdem der Senat gezielt Volksentscheid und Bundestagswahl 2013 entkoppelt hatte. (ak 601)
Im Sommer 2015 bot die SPD im Namen des Senates Gespräche an. Der Koordinierungskreis nahm an, versicherte aber, es würde keine Verhandlungen um die Inhalte des Gesetzes geben. Die Gespräche führte eine vom Ko-Kreis des Bündnisses eingesetzte Gruppe. Durch das Druckmittel Volksentscheid schien unsere Position stark, doch bald zeigten sich Schwächen. Der Senat drohte mit einer Klage vor dem Landesverfassungsgericht, die das Gesetz mit ungewissem Ausgang womöglich über Jahre verhindert hätte. Als herauskam, dass der Entwurf eventuell tatsächlich in Konflikt mit dem EU-Beihilferecht stand, wuchsen die Sorgen. Es gab die Idee, einiges technisch nachzubessern - doch die Landeswahlleitung erklärte fast alle Änderungen für unzulässig.
Damit war ein Patt hergestellt: Das Bündnis Mietenvolksentscheid hatte die Straße hinter sich, der Senat konnte jedoch glaubhaft drohen, den Volksentscheid juristisch kaltzustellen. Aus Angst vor einem Scheitern wurden nun in den Gesprächen leise Zugeständnisse diskutiert, ein Kompromissgesetz stand im Raum. Zu diesem Zeitpunkt gelang es nicht, die schwierige Situation ausreichend in den Aktivenstrukturen des Volksentscheids zu diskutieren. Zeitdruck und das Einfordern von Vertraulichkeit seitens der SPD verhinderten, dass die verschiedenen Optionen, aber auch die verschiedenen Interessen im Bündnis transparent diskutiert werden konnten. Aus Angst unprofessionell zu wirken, ließen auch wir uns vor der SPD hertreiben, statt kollektive Entscheidungsprozesse zu suchen. Am Ende der Gespräche stand ein von der Mehrheit der Gesprächsgruppe unterstütztes Abfanggesetz. Im Bündnis Mietenvolksentscheid gab es nun heftige Auseinandersetzungen darüber, wie man sich zu diesem Gesetz positioniert. Es gelang uns und anderen immerhin, eine gemeinsame Pressekonferenz von SPD und Bündnis zu verhindern und klarzumachen, dass das Aktivenplenum sich zunächst eine Meinung zu dem Gesetz bilden müsse.
Faktisch jedoch hatte die SPD nun freie Hand, ihr Gesetz als bewegungsnah zu vermarkten, die Position des Bündnisses war geschwächt: Viele glaubten nicht mehr an die Wasserdichte des eigenen Gesetzes; andererseits brauchte es Wochen, um den komplizierten Gegenentwurf zu bewerten. In diesen Auseinandersetzungen wurden verschiedene politische Perspektiven, aber auch unterschiedliche Interessen sichtbar. Für Anwohnerinitiativen wie Kotti & Co standen etwa konkrete Verbesserungen für ihre Nachbar_innen im Vordergrund. Wir haben aus unserer Bewegungsperspektive vor allem eine Vereinnahmung des Volksentscheides durch SPD und Senat befürchtet. Da im Vorfeld der Kampagne diese Perspektiven nicht geklärt wurden, konnten sie nun unter Zeitdruck erst recht nicht konstruktiv bearbeitet werden.
In einer ersten Erklärung kritisierte die Stadt-AG der IL das Demokratiedefizit des »Kompromisses«: Die Mieter_innen-Mitbestimmung war auf einen Sitz im Verwaltungsrat der jeweiligen Gesellschaften reduziert, der Senat hatte volle Kontrolle. »Verstaatlichung statt Vergesellschaftung« lautete unser Fazit. Doch mit einer sozialrechtlichen Bewertung des SPD-Gesetzes war das Mietenbündnis länger beschäftigt. Der Entwurf war hochkomplex, gleichzeitig waren gerade die »Expert_innen« im Bündnis Architekt_innen und Verfechter_innen des Kompromisses. Zudem war der Entwurf noch vage, auch kleinste Änderungen hätten in der Endfassung enorme Unterschiede gemacht. Wochenlang wurde diskutiert, während die SPD mit Erfolgsmeldungen die Öffentlichkeit beherrschte. Von Kotti & Co kam schließlich im Oktober 2015 eine kritische Bewertung: Bemängelt wurde, dass sich die Mietobergrenzen von 30 Prozent des Haushaltseinkommens auf die Kaltmiete, nicht die Warmmiete bezogen - womit gering verdienende Haushalte weiterhin 40 bis 50 Prozent ihrer Einkünfte für Miete ausgeben mussten. Auch das Sozialwohngeld fiel geringer aus als zunächst ersichtlich. Von der Berliner Mietergemeinschaft, der zweitgrößten Mieterorganisation in Berlin, die sich nur mittelbar am Volksentscheid beteiligt hatte, kam die Kritik, dass die Finanzierung des Wohnraumförderfonds nicht festgeschrieben sei, sondern langfristig haushaltsabhängig war - der Neubau würde also geringer ausfallen, als es zunächst aussah.
Erfolg oder Integration?
Obwohl der Mietenvolksentscheid noch nicht offiziell zurückgezogen ist, wird es keine Abstimmung geben. Das SPD-Gesetz ist mittlerweile verabschiedet, ohne dass die Bewegung großen Einfluss hätte nehmen können. Ursache dafür sind politische Fehler: Zu sehr wurde darauf gesetzt, in Geschwindigkeit und Detailwissen mit den etablierten Parteien mithalten zu können. Statt kollektiver Entscheidungs- und Emanzipationsprozesse stand viel zu oft das Wissen von Experten im Vordergrund. Dies wurde begünstigt durch die Komplexität des Gesetzes und fand seinen Höhepunkt in den »Gesprächen« bzw. Verhandlungen. Die IL zog sich daher im Oktober 2015 aus dem Ko-Kreis zurück und forderte eine Neugründung des Bündnisses - aus der Bewegung heraus. Raum dafür soll ein stadtweiter Kongress am 26. und 27. Februar 2016 bieten, zu dem breit eingeladen wird.
Als Erfolg bleibt die Erfahrung, dass durch den Volksentscheid der Senat gezwungen wurde, den kommunalen Wohnungsbestand massiv auszubauen. Endlich steht öffentlicher Wohnungsbau statt Konjunkturprogrammen für die private Bauwirtschaft auf der Tagesordnung - diese Wende wird Berlin verändern. Dennoch konnten alle Forderungen nach Selbstverwaltung in landeseigenen Wohnungen ausmanövriert werden, durch die Integration im »Kompromiss« wurde die stadtpolitische Bewegung verunsichert und in die Defensive gedrückt. Ob es in Berlin 2016 einen zweiten Mietenvolksentscheid geben wird oder eine außerparlamentarische Kampagne, wird nun davon abhängen, wie diese Erfahrung aufgearbeitet wird. Angebracht sind weder Zweckoptimismus noch Verdammung, sondern eine selbstkritische Bewertung der eigenen politischen Strukturen, die das jetzige Ergebnis hervorgebracht haben.
Dieser Artikel erschien als Erstveröffentlichung in der Zeitschrift "Analyse und Kritik", Ausgabe 612, Januar 2016.