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Kein Betriebsunfall, sondern eine echte Zeitenwende. Das Merz-Projekt und linke Antworten.
Eine Mitteilung der Interventionistischen Linken zur Bundestagswahl 2025
Auch wer nichts erwartet, wird enttäuscht. Das Ergebnis der Bundestagswahl war vorhersehbar – und trotzdem macht es uns wütend. Es zeigt, wie weit unsere Gesellschaft nach rechts gerückt ist. Daran ändern auch der erfreuliche Wiedereinzug der LINKEN in den Bundestag und die Eintrittswelle in die Partei erst einmal nichts. Hunderttausende waren zuletzt gegen rechts auf den Straßen: 2024 nach der Correctiv-Recherche zu rechten Deportationsplänen, Ende Januar gegen die Kooperation von Union und FDP mit der AfD, und jetzt auch am Wahlabend. Diese Proteste sind wichtig und machen Mut – aber sie allein werden nicht reichen.
Deutschlands politische Zukunft: ein Mini-TrumpSo notwendig es ist, die Brandmauer gegen rechts zu verteidigen: Die kommende Bundesregierung unter Kanzler Merz wird auch ohne AfD-Beteiligung eine zutiefst reaktionäre, rassistische, antifeministische, antisoziale und autoritäre Politik verfolgen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob am Ende die SPD oder die GRÜNEN zur Mehrheitsbeschaffung dienen werden. Denn auch wenn sich beide Parteien im Wahlkampf lautstark über Merz und den Fall der Brandmauer empört haben: Inhaltlich liegen sie in vielen wichtigen Fragen mit CDU/CSU voll auf einer Linie. Und wo nicht, wird die Drohung einer erneuten Zusammenarbeit mit der AfD ihre disziplinierende Wirkung entfalten und dazu führen, dass SPD und GRÜNE aus „staatspolitischer Verantwortung“ jede Scheiße fressen, die Merz, Söder und Co. ihnen auftischen – wie immer mit großen Bauchschmerzen, versteht sich.
Die „bürgerliche Mitte“ zeigt sich endgültig als hohle Phrase. Die politische Zukunft gehört einem antifeministischen 69-jährigen Mini-Trump aus dem Sauerland, der gerne Kampfjets fliegt und als Lobbyist für Kapitalriesen wie Blackrock Millionen verdient hat. Dagegen braucht es mehr als kurzfristige Empörung. Wir müssen die kommende Bundesregierung als das begreifen und bekämpfen, was sie ist: Ein politisches Projekt, das die unter der Ampel begonnene „Zeitenwende“ weiterführen, gesellschaftlich ausweiten und radikalisieren will – und das damit die Weichen für eine dauerhafte Zusammenarbeit von Union und AfD stellen wird.
Milei, Musk, Meloni – und Merz. Krisenkapitalismus und die rechte Internationale
Mit dem Merz-Projekt bahnt sich eine Nachholbewegung an, die Deutschland mit dem autoritär-rechten globalen Zeitgeist auf Linie bringen soll. Ob Indien, Argentinien, Brasilien, die USA, Israel, Ungarn oder Italien: Mithilfe liberaler und konservativer Kräfte sind in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Staaten rechte Regierungsprojekte an die Macht gelangt. Sie sind eine reaktionäre Antwort auf ein Zeitalter andauernder Krisen – von geopolitischen Spannungen und Kriegen bis zur eskalierender Klimakrise. Nichts davon lässt sich im Rahmen nationaler kapitalistischer Verhältnisse dauerhaft lösen. Auch mangels eines glaubhaften linken Projekts verfängt das Angebot der rechten Internationale dennoch: Abschottung, Ausgrenzung, Autoritarismus, Antifeminismus und Klimaleugnung, oft verbunden mit einer neoliberalen bzw. marktradikalen Politik im Interesse des Kapitals und Angriffen auf den Sozial- und Rechtsstaat.
Auch wenn sich Merz mit allzu offenkundiger Bewunderung für Milei, Trump und Musk bisher zurückhält: Der radikalisierte Konservatismus der Union folgt internationalen Vorbildern – und hat doch eine spezifisch deutsche Agenda.
Das Merz-Projekt – mehr als Migrationsabwehr
Der zurückliegende Wahlkampf war einmal mehr von rassistischer Hetze geprägt. Dennoch wäre es ein Fehler, das Merz-Projekt darauf zu reduzieren. Zwar zeigt sich im Umgang mit Geflüchteten beispielhaft der Angriff auf Demokratie und Grundrechte. Der autoritärer Staatsumbau betrifft jedoch alle Politikfelder. Er ist untrennbar verbunden mit drei zentralen Zielen des Merz-Projektes.
Dabei handelt es sich erstens um eine geopolitische und ökonomische Neu-Positionierung von Deutschland in Europa und der Welt. Angesichts globaler Spannungen, neuer Kriege und der Krise des deutschen Exportmodels zielen Merz und Co darauf ab, Deutschland als handlungsfähigen „Global Player“ neu aufzustellen. Konkret bedeutet das noch mehr Aufrüstung und Militarisierung, aber auch die Sicherstellung von Profitraten und Absatzmärkten fürs deutsche (Industrie-)Kapital –unter anderem auf Kosten der Klimaschutzziele, die nur mehr als störender Kostenfaktor gelten. Diese Strategie beinhaltet nicht nur gewisse Widersprüche, z.B. zwischen der Orientierung auf NATO und EU in Rüstungsfragen und einem „Germany first“-Prinzip in der Migrations- und Wirtschaftspolitik. Vielmehr verschiebt die außenpolitische Neuausrichtung auch das innenpolitische Koordinatensystem grundlegend.
In diesem Sinne besteht das Ziel des Merz-Projektes zweitens darin, Deutschland im Inneren wettbewerbs- und kriegstüchtig zu machen. Dies betrifft zuallererst den Staatshaushalt: Die Union plant Steuersenkungen fürs Kapital und die Mittel- und Oberschicht, möchte aber an der Schuldenbremse festhalten. Wofür der Rest des kaputtgesparten Haushalts verwendet werden soll, ist klar: Während die Rüstungsausgaben immer steigen werden, stehen beim Klimaschutz, der Demokratieförderung und im Sozialbereich massive Kürzungen bevor. Diese werden besonders marginalisierte Gruppen und FLINTA* treffen.
Die Diskussion um die Bezahlkarte und das Bürgergeld geben einen Vorgeschmack darauf, wie harter Klassenkampf von oben durch einen autoritären, rassistischen und klassistischen Populismus begleitet und legitimiert wird. Wo Diskurse nicht reichen, wird das Merz-Projekt auf Militarisierung, mehr Überwachung und eine Ausweitung von Law and Order setzen. Die Einrichtung von Abschiebeknästen, die Einschränkung des Versammlungsrechts oder die Repression gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung, Antifas und die Palästina-Solidarität zeigen, dass der Abbau demokratischer Grundrechte schon lange vor Merz begonnen hat. Diese Tendenz wird nun aber zweifellos ein neues Niveau erreichen.
Diesem neoliberalen, austeritätspolitischen und autoritären Staatsumbau entspricht drittens das gesellschaftspolitische Ziel einer „bürgerlichen Renaissance“ gegen das Erbe von 1968. Dieses reaktionäre Programm greift die rechte „Kulturkampf“-Erzählung einer vermeintlichen „links-grünen“ Hegemonie auf und versucht, erkämpfte Errungenschaften der gesellschaftlichen Liberalisierung und Demokratisierung und rechtlichen Gleichstellung rückgängig zu machen. Der Rollback richtet sich gegen eine antirassistische Willkommenskultur, gegen die Anerkennung der postmigrantischen Gesellschaft, gegen Feminismus und progressive Geschlechter- und Genderpolitiken, gegen Antimilitarismus und die Infragestellung von Männlichkeitsnormen, gegen Ökologie, eine unbequeme Zivilgesellschaft, alternative (Sub-)Kulturen und kritische Wissenschaften. Das Merz-Projekt wird nicht alle diese Errungenschaften gleichzeitig zerstören können, aber es wird die Spielräume massiv verengen – und damit gleichzeitig den Boden bereiten für noch mehr Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Queer- und Transfeindlichkeit und offene rechte Gewalt.
Was tun? Finstere Aussichten und linke Antworten
Keine Frage: Das Projekt Merz wird das Leben vieler Menschen massiv verschlechtern, in Deutschland und darüber hinaus. Andere werden profitieren, weil sie mehr Gewinne erwirtschaften können, weniger Steuern auf ihren Reichtum zahlen, ihre Privilegien unangetastet bleiben oder sie ihren Hass noch offener ausleben können als zuvor. Und doch wird das Merz-Projekt keine der grundlegenden Krisen lösen können, vor denen wir stehen, sondern diese im Gegenteil weiter verschlimmern. Damit wird die rechts-autoritäre Politik der Merz-Regierung weiteres Wasser auf die Mühlen der AfD sein. Mit Blick auf den Rest Europas und der Welt ist es daher weniger die Frage, ob es mittelfristig zu neuen politischen Mehrheiten auf der Rechten kommen wird, sondern eher, wann – und, wer darin den Ton angibt: Der radikalisierte Konservatismus der Union oder der völkische Nationalismus der AfD.
Diese Aussichten sind finster. Aber wo die Luft kalt wird, da wird sie auch klar. Die stabilen Verhältnisse der Vergangenheit sind auch hierzulande endgültig passé – und eine Zukunft können wir nur gewinnen, wenn wir sie gemeinsam erkämpfen. Das Merz-Projekt zielt auf einen autoritären Umbau von Staat und Gesellschaft, auf Entrechtung, Entsolidarisierung, Vereinzelung und Angst. Dabei setzt es auf eine passive Gesellschaft, die all das widerstandslos hinnimmt. Deshalb müssen wir als Linke genau hier ansetzen, für eine Gesellschaft in Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu kämpfen. Die Proteste der letzten Wochen machen Hoffnung, dass wir in diesem Kampf nicht allein sind. Kurz- und mittelfristig sehen wir mindestens vier Ansatzpunkte, um daraus eine linke Antwort auf das Merz-Projekt zu entwickeln.
Erstens ist es notwendig, die Massenmobilsierungen gegen rechts als Chance für linke und linksradikale Interventionen zu begreifen. Hierfür ist es zentral, sich frühzeitig aktiv an den Protesten zu beteiligen oder sie, wo nötig, selbst anzustoßen. Nur so ist es möglich, Inhalte nach links zu verschieben und z.B. konsequent antirassistische und antimilitaristische Positionen in die Breite zu tragen – auch gegen SPD und GRÜNE.
Zweitens müssen wir solidarisch an der Seite all jener stehen, die das Merz-Projekt – und in seinem Schatten die extreme Rechte – angreifen wird. Denn der Angriff auf Migrant*innen, das Bürgergeld, soziale und kulturelle Infrastrukturen, Gleichstellungspolitiken und Klimaschutzmaßnahmen ist absehbar. Bereiten wir uns also auf harte Abwehrkämpfe vor, suchen wir den Kontakt mit potenziell betroffenen Menschen, Gruppen und Institutionen, verteidigen wir gemeinsam bestehende Errungenschaften, auch für uns selbst.
Sowohl in breiten Mobilisierungen als auch bei konkreten Abwehrkämpfen wird es drittens darum gehen, Organisierungsprozesse zu unterstützen, Momente der politischen Selbstermächtigung zu schaffen, solidarische Alternativen aufzuzeigen und Themen, Kämpfe und Akteure zu einer oppositionellen Koalition zu verbinden. Nur so lässt sich verhindern, dass Interessen gegeneinander ausgespielt werden, die Hoffnung auf Veränderung an Parteien delegiert wird oder Wut in Apathie und Resignation umschlägt.
Um es mit der herrschenden Politik aufnehmen und mittelfristig ein starkes linkes Projekt formieren zu können, muss unsere Politik viertens auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig agieren – und dabei neben lokalen, regionalen und bundesweiten Aktivitäten auch und besonders inter- und transnationale Verknüpfungen herstellen. Gegen das transnationale Kapital, gegen die globale Militarisierung und gegen die rechte Internationale von Milei bis Merz hilft nur ein neuer Internationalismus, in dem Erfahrungen ausgetauscht, Solidarität organisiert und gemeinsam Momente der Zuspitzung gefunden werden.
Interventionistische Linke, 23. Februar 2025