3. Solidarisch und organisiert kämpfen

Sich zu organisieren bedeutet für uns, tragende Netze der Solidarität und Kollektivität zu knüpfen, eine gemeinsame Haltung und Kultur der Genoss*innenschaft zu entwickeln. Das beinhaltet Reibung und Konflikt, aber auch das Versprechen, gemeinsam für die Befreiung von der uns durchdringenden Herrschaft zu kämpfen. Der Aufbau solcher solidarischer Beziehungsweisen ist nicht einfach ein zusätzliches Thema, sondern zieht sich durch alle Bereiche unserer Politik: Wie werden wir gemeinsam zu revolutionären Subjekten? Wie lässt sich eine Perspektive globaler Befreiung transnational organisieren? Wie ist Politik in Ungleichheit auf Augenhöhe möglich?

Transnational

In einem globalen System von Ausbeutung und Unterdrückung muss auch der Kampf um Befreiung global sein. Aus dekolonialer Perspektive wollen wir von den Kämpfen dieser Welt lernen, die nationale Beschränktheit unseres politischen Handelns hinterfragen und überschreiten. Insbesondere wollen wir uns zu Aufständen und revolutionären Projekten wie den Selbstverwaltungsstrukturen in Nord- und Ostsyrien/Rojava und den zapatistischen Gebieten in ein eigenes Verhältnis setzen. Auf der Hand liegt die zerstörerische Rolle Deutschlands: Von Waffenlieferungen und Auslandseinsätzen über die Unterstützung von Diktaturen bis hin zur Zerstörung von Lebensgrundlagen im Globalen Süden durch das deutsche Wirtschaftsmodell und in Südeuropa durch die europäische Krisenpolitik. Sich gegen diese imperiale Verwüstung aufzulehnen und möglichst breit getragenen Widerstand zu organisieren, verstehen wir nicht nur als Ausdruck internationaler Solidarität. Wir befinden uns „im Herzen der Bestie“. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung und auch Handlungsmacht.

Weder unsere Analysen noch unsere Strategien wären dabei vollständig oder auch nur ausreichend, wenn wir eurozentrische Vorstellungen nicht überwinden und die Per­spektiven unserer Genoss*innen aus dem Globalen Süden nicht integrieren würden. Es ist unsere Aufgabe als organisierte radikale Linke, Räume kritisch-solidarischer Aushandlung und Reflexion zu schaffen. Wir müssen uns außerdem die Frage stellen, wie wir Ressourcen zur Verfügung stellen und Organisierungsprozesse praktisch unterstützen können, etwa wenn unsere osteuropäischen Genoss*innen transnationale feministische Allianzen unter widrigsten Bedingungen schmieden – nicht als Wohltätigkeit, sondern als Selbstverortung innerhalb dieser Kämpfe. Gleichzeitig ist für ein linkes Hegemonieprojekt, global wie vor Ort, auch der Aufbau von lokaler Gegenmacht wichtig. Es geht nicht um die Frage, ob der Schwerpunkt auf internationaler oder auf lokaler Ebene liegen sollte – diese Ebenen sind nicht zu trennen. Genauso wie das Kapital grenzüberschreitend agiert und Ausbeutungsverhältnisse transnational verlaufen, entstehen auch die Risse und Bruchlinien im Kapitalismus über Grenzen hinweg.

Prägend waren für uns die Krisenproteste gegen die europäische Austeritätspolitik. Im Rahmen von Blockupy haben wir die Kämpfe für einen Moment europäisch geführt. Es hat jedoch nicht funktioniert, im Rahmen der Commune of Europe einen verbindlicheren transnationalen Organisierungsprozess anzustoßen. Ein wesentlicher Grund hierfür war, dass die Bestimmung unserer Politik weiterhin national verhaftet geblieben ist und Internationalismus weiter als Nord-Süd-Solidarität gedacht wurde. In dieser Zeit bildete sich auch die Plattform Transnational Social Strike. Trotz des Abflauens der Krisenproteste ist es ihr gelungen, transnationale Strukturen aufrecht zu erhalten. Dort begegnen wir vielen unserer damaligen Gefährt*innen und neuen Mitstreiter*innen wieder, vorwiegend aus Europa, aber auch aus anderen Teilen der Welt. In den nächsten Jahren werden wir vor allem hier Verbindungen zwischen unseren Kämpfen suchen, um Ansätze einer transnationalen Praxis zu entwickeln. Wir wollen darin auch engere Verbindungen mit denjenigen knüpfen, die sich die gleichen Fragen wie wir stellen und ein ähnliches Politikverständnis haben. Zudem werden wir die Lern- und Austauschprozesse mit unseren Genoss*innen der kurdischen Befreiungsbewegung, die bereits transnational agiert, verstetigen und intensivieren.

Radikal antirassistisch

Antirassistische Kämpfe sind so vielfältig und sichtbar wie lange nicht mehr. Sie ergreifen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und sind Teil der globalen Kämpfe um das Leben selbst. Es geht dabei nicht nur um die Reaktion auf rassistische Morde. Es geht um das Zusammenspiel von institutionellem und alltäglichem Rassismus, der alle Orte durchzieht – auch linke. Es sind Kämpfe des Begehrens und der Wut gegen die staatliche Ordnung, die im Alltag von Bullen mit tödlicher Gewalt durchgesetzt wird, gegen die Erniedrigung, gegen die Kategorisierung. Ausgehend von den Erfahrungen dieser Kämpfe gibt es eine breite Kontroverse um Identitäts- oder Klassenpolitik. Die falschen Gegenüberstellungen von „Ökonomie“ und „Kultur“, „Klasse“ und „Identität“ lehnen wir ab. Rassismus lässt sich weder auf eine Einstellung oder einen Diskurs noch auf ein Instrument zur Ausbeutung und Spaltung der Arbeiter*innenklasse reduzieren. Rassifizierung wird sowohl durch Bilder und Sprache produziert, als auch kapitalistisch genutzt und institutionell durch die Verteilung von Rechten und Zugängen organisiert. Rassismus ist eine umfassende soziale Frage, wird durch Strukturen produziert und schreibt sich in Individuen ein.

Radikal antirassistische Praxis bekämpft die ungleichen Weltverhältnisse, denkt globale und lokale Arbeitsteilung zusammen, verteidigt das Recht auf Bewegungsfreiheit und unterstützt diejenigen, die diese Freiheit faktisch durchsetzen. Sie betrifft aber auch die Verhältnisse unter uns, in der IL und in der gesellschaftlichen Linken insgesamt. Ausgehend von der postmigrantischen Realität stellen die antirassistischen Bewegungen den gesellschaftlichen Normalzustand infrage. Sie fordern damit auch ihre weißen, deutschen Genoss*innen in der radikalen Linken heraus und machen deutlich: Rassismus ist nicht nur das Problem einiger weniger, auch wenn es einige auf hervorgehobene Weise trifft. Um als Freie und Gleiche leben zu können, müssen wir Andere werden. Deshalb beschäftigen wir uns damit, wie sich der Rassismus in uns und unsere Zusammenhänge einschreibt: mit unterschiedlichen Erfahrungen mit Polizei und anderen staatlichen Institutionen, mit der Verwobenheit von politischen Ideologien und ökonomischen Verhältnissen wie Rassismus, Kapitalismus und Neoliberalismus.

Klar ist: Wer die rassifizierenden Gewaltverhältnisse überwinden will, ist darauf angewiesen, das Wissen von Unterdrückten einzubeziehen. Kritisch sehen wir das in Teilen der Linken propagierte Konzept des Allyship, also passive Verbündetenschaft. Wir setzen dem die aktive Beziehung der Genoss*innenschaft entgegen. Denn der rassistische Normalzustand kann nur überwunden werden, wenn Rassismus auch zur Kampflinie derer wird, die nicht unmittelbar betroffen sind, weil auch sie nicht Teil einer rassistischen Gesellschaft sein wollen. BIPoC und Migrant*innen sind schon immer Genoss*innen in gesellschaftlichen und emanzipatorischen Kämpfen. Wir wollen weder sprachlos neben den Kämpfen stehen, noch diese dominieren. Gemeinsam die sprichwörtliche Bullenwanne umwerfen, solidarisch kämpfen in Ungleichheit auf Augen­höhe, das ist unser Anspruch.

Genoss*innenschaft leben

In unserer gemeinsamen Organisierung begegnen wir einander als Genoss*innen. Wir teilen ein politisches Begehren nach radikaler politischer Veränderung. Dafür braucht es einen langen Atem. Wir wollen uns gegenseitig befähigen, politische Subjekte mit so einem langen Atem zu werden. Wir wissen um die Widrigkeiten im Alltag, um die Vereinzelung, die Erschöpfung und die Zumutungen, die uns die Verhältnisse aufzwingen. Sich zu organisieren, bedeutet für uns daher auch, uns zu versprechen, diesen Weg des langen Atems miteinander zu gehen und der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen.

Wir arbeiten an einer Kultur der Ernsthaftigkeit, die für diesen Weg notwendig ist. Das hat etwas mit (Selbst-)Disziplin zu tun, aber nichts mit militärischer Härte. Ernsthaftigkeit bedeutet auch fürsorglich, herzlich und verbunden zu sein. Das heißt nicht, dass wir uns in vermeintlicher Achtsamkeit einander nicht mehr zumuten, in der Sorge etwas falsch zu machen, wie es die neoliberale Ideologie nahelegt. Der Neoliberalismus führt zu einer Moralisierung des Politischen und sieht das Problem in individuellem Fehlverhalten. Dieser unerfüllbare Anspruch der Selbstoptimierung führt zu Vereinzelung und Rückzug. Dem stellen wir eine Form der Kollektivität entgegen, in der Kritik und Selbstkritik nicht als individueller Veränderungsdruck verstanden wird, sondern als Ausdruck von Solidarität, Lebendigkeit und Zugewandtheit zwischen Genoss*innen.

Teil von Genoss*innenschaft sind auch unsere Versuche, strukturelle Diskriminierungen innerhalb der Organisation zu bearbeiten. Dafür haben wir in den letzten Jahren verschiedene Formate geschaffen und Genoss*innen haben sich diese selbstbestimmt genommen. Geschlechtergetrennte Räume, die interne Selbstorganisation von BIPoCs und Gespräche über eigene klassenbezogene Diskriminierungserfahrungen sind Instrumente, um Diskriminierungen adressierbar zu machen. So wird es möglich, sich in Ungleichheit trotzdem auf Augenhöhe zu begegnen. Wir haben die Erfahrungen mit Männlichkeitskritik kollektiviert und daraus Mindeststandards für unsere Ortsgruppen formuliert. Ein wichtiger Schritt für uns als Organisation war, einen Leitfaden zum Umgang mit sexualisierter Gewalt zu erarbeiten und Ansprechstrukturen auf Basis von Parteilichkeit mit Betroffenen zu schaffen. Uns ist klar, dass weder Leitfäden, noch das Zusammenkommen in bestimmten Positionierungen die politische Haltung und Verantwortung jeder einzelnen Genoss*in ersetzen. Es bleibt eine ständige Aufgabe, ihn mit Leben zu füllen und unser Verständnis davon zu schärfen, wie wir mit patriarchaler Gewalt und Täterschaft umgehen wollen oder was Parteilichkeit konkret bedeutet. In Fällen sexualisierter Gewalt wollen wir kollektiv Verantwortung übernehmen. Dazu gehört auch, dass im konkreten Umgang Fehler passieren können. Um miteinander aus Fehlern und guten Beispielen lernen und unterschiedliche Einschätzungen aushandeln zu können, brauchen wir den Austausch innerhalb und außerhalb unserer Organisation. Nur so entstehen erneuerte und tragfähige Netze der Solidarität.

Netze der Solidarität knüpfen wir auch zwischen verschiedenen Generationen. In die Gründung der IL sind mehrere Generationen von Kämpfen eingeflossen. Das bedeutete immer schon ein Zusammentreffen unterschiedlicher Erfahrungen und politischer Traditionen. Diese Unterschiede in Wissen und Erfahrung sehen wir als Möglichkeit, voneinander zu lernen. Allerdings haben wir uns in den letzten Jahren zu wenig damit beschäftigt, wie dieses Wissen kollektiviert und Erfahrungen zugänglich gemacht werden können. Auch deshalb streben wir den Ausbau von Bildungsarbeit an. Wir erhoffen uns davon die Auswertung von Kämpfen, die Stärkung unserer Analysefähigkeit, eine bessere Selbstverortung innerhalb der gesellschaftlichen Linken und die Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins. Das hilft dabei, Ruhe zu bewahren in stürmischen Zeiten, wenn sich die Ereignisse überschlagen und die Konflikte zuspitzen.

Gerade in Zeiten zunehmender Repression ist Solidarität wichtiger denn je. Die Kriminalisierung politischen Protests, die Zerschlagung linker Gruppen durch die Anwendung von Terrorismusparagrafen und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse sind ein Vorgeschmack auf die Schärfe der kommenden Auseinandersetzungen.

Natürlich sind die Grenzen der Organisation nicht die Grenzen der Genoss*innenschaft. Auch nach außen gilt unser Versprechen: Auf der Grundlage geteilter Ziele begegnen wir uns in den Bewegungen und Kämpfen in Solidarität, bei aller Unterschiedlichkeit von Erfahrungen und Hintergründen. Nur gemeinsam und in der Pluralität der Vielen lässt sich der Weg zur Revolution gehen. Gerade in Zeiten, in denen der Wind rau und der Horizont düster ist, braucht es eine radikale Linke, die zeigt: Eine ganz andere, eine bessere Welt ist möglich.

Machen wir uns auf zu suchen, zu entdecken, auszuprobieren, zu scheitern, besser zu werden, zu gewinnen.