Die globalen Krisen sind auch hierzulande inzwischen direkt spürbar. Aber trotz sommerlicher Hitzewellen und tödlicher Überflutungen, trotz Rechtsruck, wachsender sozialer Ungleichheit und Austeritätspolitik: Die Linke scheint blockiert, gehemmt, vor allem aber unsichtbar zu sein. Abgesehen von Empörungswellen und kurzfristigen Mobilisierungen gibt es kaum nachhaltigen Protest und Widerstand. Dazu tragen die spürbare Desorientierung und die Spaltungsprozesse in der gesamten Linken ihren Teil bei. Zentrale, tiefer liegende Ursachen sind die paradoxerweise herrschaftsstabilisierenden Wirkungen von Krieg und Krisen, die auf die Folgen neoliberaler Individualisierung treffen, vor denen auch wir, als radikale Linke, nicht gefeit sind. Einer zerfaserten Linken fällt es zunehmend schwer, auf die Beschleunigung des politischen Geschehens adäquat zu reagieren und Gegenentwürfe zu den Verhältnissen zu entwickeln.
Koloniale Ausbeutung, billige Rohstoffe und fossiler Extraktivismus haben die kapitalistischen Zentren des Westens reich und mächtig gemacht. Das ermöglichte den Klassenkompromiss in den Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, die Beteiligung großer Teile der Gesellschaft an Konsum und Wohlstand. Diese imperiale Lebensweise kann bis heute nur in einem kleinen Teil der Welt realisiert werden. Ihr Preis sind neokoloniale Ausbeutung sowie ein ungehemmter Verbrauch von Ressourcen und fossilen Brennstoffen. Natürlich profitieren hiervon insbesondere die Reichen und Wohlhabenden, während auch in den kapitalistischen Zentren die soziale Ungleichheit wächst. Viele Leute hier vor Ort nehmen Veränderungen dieser Verhältnisse als Bedrohung ihrer Lebensweise wahr, auch weil Veränderung unter den herrschenden Machtverhältnissen nicht auf Kosten der Reichen, sondern der Mehrheit der Bevölkerung erfolgt. Dieser Mechanismus ist ein gewaltiges Hindernis für einen breiten Widerstand gegen Grenzregime, institutionellen Rassismus und für eine konsequente Klimapolitik.
Die unübersehbaren Momente der Zuspitzung wie die Ahrtal-Flut, die Corona-Pandemie oder die aktuellen Kriege haben zuletzt paradoxerweise vor allem zur Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse beigetragen. Durch eine erfolgreiche Bearbeitung der Bedürfnisse nach Sicherheit und Stabilität konnten gesellschaftliche Widersprüche in diesen Situationen zugunsten scheinbar allgemeiner Interessen oder klarer Freund-Feind-Bilder eingeebnet werden. Die Anrufung einer Schicksalsgemeinschaft hat verfangen. Unterschiedliche Betroffenheiten und Verantwortlichkeiten spielen darin keine Rolle mehr.
Die Zunahme von Krisensituationen trifft dabei auf die beschleunigte Aufmerksamkeitsökonomie einer digitalisierten Öffentlichkeit. Politische Debatten werden immer moralisierter, Empörungswelle folgt auf Empörungswelle, unzählige politische Aufreger werden in immer kürzeren Abständen aneinandergereiht. Doch was heute noch brennt, ist morgen bereits vergessen. Was bleibt, ist die Wahrnehmung der umfassenden Krisenhaftigkeit und ein tiefgreifendes Gefühl der Unsicherheit, das zugleich den Rückzug ins Private, die Entsolidarisierung und die Bindung an die Sicherheitsversprechen der Herrschenden fördert.
Auf der Ebene der Individuen stellt eine weit fortgeschrittene neoliberale Subjektivierung ein großes Hindernis für Solidarität, Kollektivität und damit für den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht dar. Subtile oder offene Mechanismen der Disziplinierung und Sanktionierung bei gleichzeitigem Abbau sozialer Sicherheit werfen die Menschen auf das eigene Überleben zurück. Sie werden gezwungen, sich stärker als Einzelkämpfer*innen zu verhalten. Dies fällt zusammen mit der allgegenwärtigen Aufforderung, die eigenen Chancen zur Entfaltung und Selbstverwirklichung zu nutzen – angeblich im Einklang mit dem persönlichen Wohlbefinden und einer angemessenen Selbstsorge. Durch dieses vergiftete, aber wirkmächtige Freiheitsversprechen unterwerfen sich die Menschen selbst den Logiken der Eigenverantwortlichkeit und Konkurrenz.
Eine radikale Linke, die gesellschaftliche Verhältnisse ins Wanken bringen will, steht daher vor einer zentralen Herausforderung: Die Kritik der neoliberalen Subjektivierung in die Breite zu tragen und gleichzeitig Gegenmodelle der Kollektivität und der Genoss*innenschaftlichkeit zu entwickeln und konkret erfahrbar zu machen.