Die Lage der Linken ist widersprüchlich: Es gibt immer wieder beeindruckende Mobilisierungen der Klimagerechtigkeitsbewegung, von Black Lives Matter, Migrantifa, von Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder gegen die AfD. Es werden mehr junge Menschen von feministischen, antirassistischen, ökologischen und anderen linken Kämpfen geprägt, als wir vor wenigen Jahren noch gehofft hätten. Gleichzeitig bleiben diese Bewegungen oft punktuell, entwickeln nur kurzfristige Verschiebungen im Diskurs und können ihre konkreten Anliegen nur selten durchsetzen. Vor allem ändern sie nichts an der Strategielosigkeit und Handlungsschwäche linker und linksradikaler Organisationen.
Die Corona-Pandemie mit der allgegenwärtigen Ansteckungsgefahr, den Lockdowns und Einschränkungen im Versammlungsrecht hat viele Menschen davon abgehalten, für Protest und Widerstand auf die Straße zu gehen. Wie die gesamte Gesellschaft, so haben auch unsere eigenen Strukturen und die unserer Bündnispartner*innen unter den Bedingungen der sozialen Isolation gelitten. Die neoliberale Vereinzelung der Menschen hat sich dadurch noch verschärft. Zugleich haben sich in der Corona-Krise tiefe Widersprüche in der gesellschaftlichen und radikalen Linken aufgetan, die gemeinsame Positionen und wirksame praktische Interventionen verhindert haben.
Ähnliche Ratlosigkeit und Widersprüche zeigen sich in der Bewertung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der folgenden Inflations- und Energiekrise. Wie sieht eine antimilitaristische Haltung aus, die antagonistisch zum deutschen und westlichen Militarismus bleibt, ohne den aggressiven russischen Imperialismus zu leugnen oder unwillentlich zu unterstützen? Wem gilt unsere Solidarität und was heißt das zum Beispiel für unsere Position zu Waffenlieferungen? Wie bringen wir die Forderungen nach bezahlbarer Energie und die Notwendigkeit eines radikalen Klimaschutzes unter einen Hut? Zu diesen Fragen hat auch die IL viel gestritten und zu wenige Antworten gefunden.
Die Spaltung der Linkspartei ist Folge und schärfster Ausdruck der Widersprüche in der gesellschaftlichen Linken. Zwischen den nationalistischen und vulgär-antiimperialistischen Provokationen und bräsigem Reformismus hatten es die emanzipatorischen Kräfte in der Partei immer schwerer. Mit der nun vollzogenen Trennung gibt es möglicherweise Chancen für einen bewegungsorientierten Neustart. Für die IL war die Linkspartei stets wichtige, strategische Bündnispartnerin, aber nie ein Feld politischer Intervention. Unser Projekt ist die eigenständige linksradikale Organisierung und wird es bleiben.
Gewerkschaften und Verbände haben sich in den vergangenen Jahren zwar in Richtung sozialer Bewegungen geöffnet und zum Beispiel mit Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung die Zusammenarbeit gesucht. Insgesamt bleiben sie aber in ihren etablierten, sozialpartnerschaftlich orientierten Bahnen. Sie sind damit punktuelle Partner*innen für Bündnisse und Zusammenarbeit, fallen als Motor für radikale Veränderungen aber weitgehend aus.
In der radikalen Linken haben in den letzten Jahren zwei Formen der Politisierung besonderen Zulauf. Erstens ist das eine machtkritische Identitätspolitik. Sie beschäftigt sich mit den vielfältigen Dimensionen von Diskriminierung, allen voran Rassismus, Patriarchat sowie Queer- und Transfeindlichkeit. Wichtig sind dabei vor allem die eigene Positionierung und das individuelle moralisch richtige Verhalten. Diese Politik hat dadurch häufig einen Anleitungscharakter, schafft aber wenig kollektive Handlungsansätze zur gemeinsamen Überwindung der Gewaltverhältnisse.
Zweitens ist – in unterschiedlicher regionaler Stärke – eine Vielzahl „roter Gruppen“ entstanden. Sie bedienen das verbreitete Bedürfnis nach politischer Orientierung und ideologischer Eindeutigkeit. In ihrem dogmatischen Marxismus-Leninismus stehen das Wachstum der eigenen Organisation und ein radikaler Habitus im Vordergrund. Die Vielfalt der revolutionären Linken und der Bewegungen sehen sie nicht als Chance, sondern vor allem als Problem, das es durch Vereinheitlichung und die richtige Ideologie zu überwinden gilt. Folgerichtig treten sie oft als homogener Block auf und kopieren in Ideologie und Ästhetik ihre revolutionären Vorbilder der 1920er Jahre. Ihre Bündnispolitik bleibt meist punktuell und instrumentell.
Der Identitätspolitik und den „roten Gruppen“ gemeinsam ist, dass sie Orientierung und vermeintliche Klarheit für die diffusen Herausforderungen der Gegenwart anbieten. Beide Richtungen erteilen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – der Suche nach dem Gemeinsamen eine Absage, was die gleichwohl notwendigen Bündnisse oft schwierig macht.
Parallel zu diesen Entwicklungen innerhalb der gesellschaftlichen Linken findet der Kampf um Aufmerksamkeit und politische Positionen zunehmend in den sozialen Medien statt. Einige wenige linke Publizist*innen und Influencer*innen nutzen das virtuelle Kampffeld, um Impulse zur Politisierung zu setzen. Sie bieten Identifikationsmöglichkeiten und verhelfen marginalisierten Positionen zu mehr Sichtbarkeit. Gleichzeitig stellen die Flüchtigkeit, der Individualismus und die oft verkürzten Debatten in sozialen Medien Grenzen für kollektive Veränderungsprozesse dar. Bisher tun sich große Teile der organisierten Linken schwer mit Plattformen, auf denen lange Texte und anonyme Gruppen so schlecht funktionieren. Dieser Herausforderung wollen wir uns stellen, indem wir mehr eigene Kanäle und Formate entwickeln, die eine Balance zwischen kollektivem Sprechen und notwendiger Personalisierung finden. Dabei werden wir nicht vergessen, dass am Ende nicht der virtuelle Raum entscheidet, sondern die ganz reale Straße.
Die großen Fragen liegen also auf dem Tisch: Wie müssen wir angesichts der multiplen Krisen die Strategien der gesellschaftlichen und der radikalen Linken neu formulieren? Wie identifizieren wir nicht nur Konfliktfelder, sondern werden in ihnen handlungsfähig? Wie aktualisieren wir unsere Taktiken und Aktionsformen? Was fehlt, damit Mobilisierungserfolge auch zu materiellen Erfolgen führen? Was sind kollektive Organisationsformen für das 21. Jahrhundert? Kurz: Wie bauen wir gesellschaftliche Gegenmacht auf?